Leseprobe

14 Einleitung Einen Kernbereich der Dresdner Skulpturensammlung bilden Statuen, Statuetten und Büsten, die antike Bildhauer in der Zeit vom 3. Jahrtausend v. Chr. bis zum späten 4. Jh. n. Chr. geschaffen haben. Innerhalb dieses sehr weit gespannten zeitlichen Rahmens kommt den Schöpfungen aus dem 5. und 4. Jh. v. Chr., also denjenigen aus der Blütezeit der griechischen Bildhauerkunst, eine herausragende Rolle zu. Denn etliche der seinerzeit entstandenen Werke sind nicht nur in antiken Texten, vor allem in der Naturalis historia des Plinius (zweite Hälfte des 1. Jhs. n. Chr.) und in Pausanias’ Perihegese, einer Art Reisebericht (zweite Hälfte des 2. Jhs. n. Chr.), gewürdigt worden, sondern auch, und das ist von essenzieller Bedeutung, kopiert worden: Bereits im 2. Jh. v. Chr. hat man in Griechenland damit begonnen, Statuen von der Hand berühmter Bildhauer abzuformen und mithilfe solchermaßen erzeugter Abgüsse zu Verkaufszwecken zu vervielfältigen. Kopiert wurden vorzugsweise Bronzestatuen: von Gottheiten und anderen mythologischen Gestalten, von Heroinen und Heroen, von Personifikationen, siegreichen Athleten, Dichtern, Philosophen, Politikern und Tieren. Die Größe der kopierten Originale betrug üblicherweise etwa 1,40 m (Knabe bzw. Ephebe in Lebensgröße) bis etwa 2,10 m (Gott oder Heros in Überlebensgröße). Gelegentlich sind außerdem auch Statuetten, also deutlich unterlebensgroße Werke, abgeformt worden sowie besonders große Skulpturen, zum Beispiel ein knapp 3 m großer Herakles von der Hand Lysipps (Herakles Typus Farnese). Bei Werken kolossalen Formats kam es, wenn überhaupt, nur zur Abformung von Details: Von der Athena Parthenos, einem knapp 12 m großen Werk des Phidias aus der Zeit um 440 v. Chr., hat man die Relieffiguren der Amazonenschlacht abgeformt, mit der die Außenseite ihres Schildes geschmückt war. Auch Porträtstatuen sind häufig nicht als Ganzes, sondern nur auszugsweise abgeformt worden, umTeilkopien in Form von Büsten oder Hermen herstellen zu können. Kopiert wurden schließlich auch einige Hermen, etwa solche, die den Gott Hermes mit Vollbart zeigen, sowie reliefplastische Werke. Diese Produktion von Kopien berühmter griechischer Bildwerke kam erst nach über 350 Jahren, in der zweiten Hälfte des 3. Jhs. n. Chr., nach und nach zum Erliegen. Da die Übertragung der Abgüsse in Marmor oder Bronze in der Regel mit großer, oft auch mit größter Sorgfalt praktiziert worden ist und da sich außerdem nicht selten gleich mehrere Kopien desselben Originals nachweisen lassen, ist die Forschung seit etwa 130 Jahren imstande, das Schaffen der bedeutendsten Bildhauer des 5. und 4. Jhs. v. Chr. zumindest in Teilen rekonstruieren zu können. Das auf diese Weise gewonnene Bild von der Meisterschaft griechischer Bildhauer wird durch einige wenige Originalwerke klassischer Zeit ergänzt, die entweder nie unter die Erde gelangt sind, wie die Koren vom Erechtheion auf der Athener Akropolis, oder in der Neuzeit wiederentdeckt wurden, wie die beiden im Ionischen Meer in der Nähe von Riace Marina gefundenen nackten Heroen aus Bronze, die heute im Archäologischen Museum von Reggio (Kalabrien) aufbewahrt werden. Einer der größten Glücksfunde ist die aus Marmor gearbeitete und im Tempel der Hera in Olympia freigelegte Statuengruppe von Hermes und Dionysos, die dank Pausanias’ Erwähnung als Werk des wohl berühmtesten Bildhauers des 4. Jhs. v. Chr., des Praxiteles, bestimmt werden kann (Abb. 1). Diese Skulptur gehört, vielleicht wegen ihrer einstigen, heute nur noch zu erahnenden Farbgebung, zu denjenigen, die offenbar nicht abgeformt werden durften und demzufolge nicht in Kopie vorliegen. Anders verhält es sich mit den bereits erwähnten Erechtheion-Koren, die ebenfalls aus Marmor bestehen. Sie sind in der römischen Kaiserzeit, im 1. und 2. Jh. n. Chr., abgeformt und vervielfältigt worden, unter anderem für eine der berühmtesten kaiserlichen Villenanlagen, die im Auftrag von Kaiser Hadrian (reg. 117–138 n. Chr.) angelegte Villa in Tivoli (Latium). Leider gibt keine antike Schriftquelle darüber Auskunft, wer die Bildhauer der sechs attischen Koren gewesen sind und ob es sich bei ihnen um bedeutende Vertreter ihres Faches gehandelt hat.

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