Visualisierung und Vermarktung des Königreichs Ungarn Bildpostkarten zwischen ethnischer Vielfalt und Magyarisierung (1900–1920) Julia Richers »Die österreichisch-ungarische Monarchie entbehrt [...] noch immer eines ethnographischen Werkes, welches [...] ein umfassendes Gesammtbild unseres Vaterlandes und seiner Volksstämme bietet. Das Studium der innerhalb der Grenzen dieser Monarchie lebenden Völker ist nicht nur für den Gelehrten ein hochwichtiges Feld der Thätigkeit, sondern auch von praktischem Werthe für die Hebung der allgemeinen Vaterlandsliebe.«1 Mit diesen Worten begründete Kronprinz Erzherzog Rudolf 1887 in seiner Einleitung den Sinn und Zweck des auf 24 Bände ausgerichteten Publikationsprojekts Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Beweggrund für dieses ethnografische Monumentalwerk war folglich eine doppelte Lücke: eine substanzielle Wissenslücke über die vielfältigen Bevölkerungsgruppen der großflächigen Monarchie und ein Fehlen respektive ein potenzieller Mangel an kohäsivem Bindemittel und »allgemeiner Vaterlandsliebe«, die die Vielfältigkeit im Innern zusammenhielten.2 Augenfällig ist, dass der ungarische Teil der Monarchie in diesem Publikationsprojekt gleich mit sieben umfangreichen Bänden vertreten war, während andere Regionen der Doppelmonarchie meist nur in einem einzigen Band abgehandelt wurden. Dies schien nicht nur mit dem österreichisch-ungarischen Ausgleich und dem Wunsch nach einer gewissen Parität zu tun zu haben, sondern auch mit der besonders großen Wissenslücke, die in Bezug auf die in Ungarn vorzufindenden Regionen und ethnischen Gruppen zu bestehen schien. Im ersten der zu Ungarn erschienenen Bände hielt Erzherzog Rudolf einleitend fest: »[N]icht nur der Naturforscher findet in den so abwechslungsreichen Gegenden Ungarns stets neues Material für seine Studien, auch der Ethnograph, der das Studium des Volkslebens, der Volksentwicklung und der Völkereigenthümlichkeiten zu seiner Lebensaufgabe macht. Die letzten Wogen der Völkerwanderung haben hier höchst interessante Gruppirungen verschiedener Nationalitäten geschaffen; hart an der Sprachgrenze des germanischen Stammes wohnen Nord- und Südslaven, theils in den Gebirgen, theils in den Ebenen, im Osten Rumänen, und im Herzen des Landes haben die Magyaren sich fast ausschließlich in den Ebenen niedergelassen [...]. Deutsche wohnen in den Gebirgsgegenden und zerstreut auch auf den Ebenen. Außer diesen Hauptstämmen kommen noch Ruthenen, Armenier, Bulgaren und allenthalben Zigeuner vor. Wir wollen alle diese Völker kennen lernen in ihren Wohngebieten, in ihren Sitten, Gebräuchen und Trachten.«3 Wort und Bild des landläufig als Kronprinzenwerk bezeichneten Publikationsprojekts können demzufolge als Vorläufer der später produzierten ethnisch codierten Bildpostkarten gelten. Als der erste hier zitierte Band zu Ungarn 1888 erschien, stand man mit der visuellen Kartierung des polyethnischen Königreichs noch am Anfang.4 Die erst in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre aufkommenden Bildpostkarten sprangen in die klaffende Lücke ein, indem sie dem In- und Ausland die Vielfalt der Regionen und ethnischen Gruppen der Monarchie wortwörtlich vor Augen führten. Diese Funktion war vor allem deshalb von Relevanz, da bis ins 20. Jahrhundert im Königreich Ungarn nur eine kleine privilegierte Elite das eigene Land bereisen konnte. Kaum jemand hatte eine Vorstellung von den diversen Landschaften und Bevölkerungsgruppen, die zwischen Fiume (heute kroat. Rijeka) an der Adria und der mythischen Theißquelle in den östlichen Waldkarpaten oder im siebenbürgischen Brassó (dt. Kronstadt, heute rum. Braşov), zwischen der Hohen Tatra im Norden und den bosnisch-serbischen Grenzgebieten im Süden des Königreichs anzutreffen waren. Hier übernahmen die neuen Bildpostkarten über die vielfältigen Regionen und Bevölkerungsgruppen Ungarns eine wichtige kohäsive und edukative Informationsfunk
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1