Leseprobe

Regionalismus, Nationalismus, Antisemitismus 49 q gionen spätestens ab Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich unterschiedliche Wege. In der Bukowina, die dann in den Status eines eigenständigen Kronlands erhoben wurde, etablierten die Eliten den sogenannten Bukowinismus als verbindendes und leitendes Ideologem. Jener setzte die österreichisch-deutsche Kultur als wesentlich für die Entwicklung des Kronlands.28 Ein anderer bedeutsamer Bestandteil des identitätsstiftenden Narrativs des Bukowinismus war, den Beitrag der unterschiedlichen ethnischen, sprachlichen und religiösen Gruppen zur Geschichte und Gegenwart der Region zu betonen. Wenngleich die Beschreibung des Bukowinismus als »Gemeinsamkeitsideologie« ohne Wertung irreführend ist,29 so lässt sie sich als grundsätzliche Bejahung des Zusammenlebens unterschiedlicher ethnisierter Gruppen lesen, als Affirmation der Multiethnizität, wobei auch dort Vereine und Gruppen mit nationalistischen Ambitionen existierten. In Galizien wiederum, in seinem Zuschnitt ein Ergebnis der Teilungen Polens, konnte kein regionales Selbstverständnis entwickelt werden.30 Vielmehr dominierte die »Konkurrenz der nationalen Erzählungen – polnischer, ukrainischer und jüdischer«.31 Sowohl die polnische als auch die ukrainische/ruthenische Nationalbewegung sahen in Galizien ihr Piemont.32 Auf dem Territorium des Kronlands Galizien lebten 1910 rund acht Millionen Menschen, die sich unterschiedlich identifizierten.33 Die Volkszählungen erfassten Religionszugehörigkeit und die hauptsächlich benutzte Umgangssprache, was der Komplexität der Situation nicht gerecht wurde. Denn unter anderem in Galizien pflegten viele Bewohner*innen mehrere Umgangssprachen.34 Zudem waren die Sprachverwendung und deren Nennung an politischnationale (Neu-)Verortungen sowie auch Fragen sozialer Erwünschtheit gekoppelt. So ergab sich beispielsweise für Galizien zwischen 1900 und 1910 ein Rückgang derer, die in der früheren Volkszählung Deutsch als Umgangssprache angegeben hatten. Im Vergleich dazu nahm im selben Zeitraum die Anzahl jener, die Polnisch als Umgangssprache nannten, um 17,14 Prozent zu. Ruthenisch wurde um 4,35 Prozent häufiger genannt.35 Jene unterschiedlichen Situationen zeigten sich im Postkartenschaffen: In der Bukowina bemühten die nationalen Vereine durchaus auch das Kommunikationsmittel der kleinen Kärtchen, um ihr Anliegen zu propagieren – wobei allerdings die das Postkartenwesen dominierenden ethnisch-religiös-sprachlichen Gruppen an der Veränderung des Status quo nur mäßig interessiert waren. Die Vorkämpfer*innen der nationalen Sache der politisch nicht dominanten Gruppen der Rumän*innen und Ruthen*innen (ganz zu schweigen von den zahlreichen Kleingruppen der Bukowina) wiederum inkludierten die kleinen Karten nur spärlich in ihr Medienset der nationalistischen Agitation. Die Imaginationen der Gemeinschaften, die Visualisierungen von Ein- und Ausschluss, blieben subtiler.36 In Galizien zeigten sich gewisse Parallelen, aber auch deutliche Unterschiede. Es fällt auf, dass in die populäre und populärkulturelle Sphäre des Postkartenmachens in Galizien maßgeblich die polnische nationale Erzählung Eingang fand, während die ukrainische Nationalbewegung im Gegenzug eine derartige visuelle Präsenz nicht einmal in Ansätzen entwickeln konnte. Die weitgehende Abwesenheit von Produzent*innen, die sich selbst als ruthenisch/ukrainisch klassifizierten, hatte folglich einen direkten Einfluss auf die Inhalte der Postkartenproduktion. Zudem spielten auch Einschätzungen der Kundschaft eine Rolle, da der Absatzmarkt für die im Vergleich zahlenmäßig größere und edukativ besser gestellte polnischsprachige Bevölkerung, die der polnischen Erzählung anhing, als größer vermutet wurde. Die überaus populären kleinen Karten, die auch diejenigen erreichten, die nicht alphabetisiert waren – und deren Anteil unter der weitgehend bäuerlich geprägten gesamten ruthenischsprachigen Bevölkerung mit rund 75,8 Prozent im Jahr 1900 sehr hoch war 37 – entfielen als Vehikel nationaler Botschaften weitgehend, was das mediale Agitationsspektrum einschränkte.38 Hier liegt ein ähnlicher Befund für beide Regionen – Bukowina und Galizien – vor. Im Falle der jüdischen Erzählungen stellt sich die Ausgangslage ungleich komplizierter dar. Die politischen Organisationen der Zeit präsentierten unterschiedliche Varianten des jüdischen Nationalgedankens. Projizierten manche Gruppen ihre Ideen auf das frühere jüdische Siedlungsgebiet in Palästina, sahen manche die Assimilation in die jeweilige Mehrheitsgesellschaft als richtigen Weg an. Eine weitere Option präsentierten die Diaspora-Nationalisten und die Jiddischisten, die in den Regionen des östlichen Europa ebenso beheimatet bleiben wollten wie auch in der jüdischen Kultur, die sie häufig genug mit dem traditionellen Jiddisch verknüpften.39 In der niedrigschwelligen Bildmedienproduktion Galiziens und der Bukowina sind jüdische Nationalerzählungen nicht zu finden. In den ausgewerteten Postkartenbeständen fehlen zionis-

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