Inszenierung von idyllischer Exotik im Zeitalter der Modernisierung 133 q schaftlich und kulturell dominierende deutsche Nation. Für die Postkartenproduzent*innen in Ostpreußen und Westpreußen waren sie daher – ebenso wie in der Provinz Posen – weniger interessant. Dafür gerieten andere ethnische und auch berufliche Gruppen in den Blick der Verleger*innen. Ostpreußen zwischen Naturidylle und Exotik – Masuren und Altgläubige auf Postkarten Die Provinz Ostpreußen war der ärmste Teil des Deutschen Kaiserreichs. Wirtschaftlich besonders zu kämpfen hatte der südliche Teil der Provinz, Masuren. Die Wirtschaftslandschaft Ostpreußens war agrarisch geprägt, nur Königsberg war ein bedeutendes Industriezentrum.11 Die gesellschaftliche und wirtschaftliche Modernisierung dieses Gebietes begann erst im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts mit der Einrichtung einer Eisenbahnlinie, die bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges die meisten Städte Ostpreußens erreichte. Die schrittweise Integration in das schnell wachsende deutsche Wirtschaftssystem ermöglichte es den Bewohner*innen der ökonomisch schwachen Gebiete Ostpreußens, zumindest teilweise am Wachstum zu partizipieren. Die Dichotomie zwischen einerseits dem Streben nach schneller Modernisierung und andererseits den wirtschaftlichen und sozialen Merkmalen einer strukturschwachen Region prägten die Postkartenmotive aus dem Gebiet Ostpreußens. Während Modernisierung vor allem auf Stadtansichten zu finden war, wurden die Strukturmerkmale der ländlichen Gebiete auch im Zuge des aufkommenden Tourismus positiv umgedeutet. Die ostpreußische Natur wurde zu einem Thema, um das sich eine spezifische lokale ostpreußische kulturelle Identität zu entwickeln begann. Wilde, unberührte Wälder und Seen stellten in künstlerischen Interpretationen (hauptsächlich literarische und bildende Kunst) eine Quelle der Kraft und Vitalität dar. In der Zwischenkriegszeit drangen sie in das gesellschaftliche Massenbewusstsein ein und wurden zu einem untrennbaren Bestandteil der Ikonosphäre Ostpreußens.12 Das ausdrucksstärkste Beispiel für diesen Trend wurde Das Ostpreußenlied Erich Hannighofers – mit dem berühmten Satz, der Ostpreußen als das Land der dunklen Wälder und kristallklaren Seen beschreibt. Insbesondere die masurische Bevölkerung – teils als eigene Ethnie betrachtet, teils von der deutschen wie polnischen Nationalbewegung für sich vereinnahmt – personifizierte diese Naturidylle. Sie wurde jahrelang als Symbol zivilisatorischer Rückständigkeit wahrgenommen, wie der verächtliche Ausspruch belegt: »Wo sich aufhört die Kultur, beginnt zu leben der Masur«.13 Ein Beispiel für eine solche Darstellung sind Postkarten aus den 1890er Jahren, die das Leben der masurischen Bevölkerung zeigen. Abbildung Nr. 1, hergestellt im örtlichen Fotoatelier F. Guttzeit in Lyck im Jahr 1899, zeigt Fotografien einer »typischen masurischen Bauernfamilie«, wahrscheinlich von Vater und Mutter, Sohn und Tochter neben der Hauptstraße in Lyck während des Markts. Besonders charakteristisch ist das Foto des Vaters mit strengem Gesichtsausdruck und großer Pelzmütze. Es steht im Kontrast zu den sanften Gesichtern von Kindern, die weniger auffällig gekleidet sind. Der Kontrast zwischen den Kindern und dem Vater kann, vom Herausgeber der Postkarte nicht beabsichtigt (oder vielleicht beabsichtigt?), einerseits eine tiefe Rückständigkeit der Provinz symbolisieren, andererseits das Streben nach einem Zivilisationssprung. Auch der Ort, den die Postkarte abbildet, ist von Bedeutung. Dank der Eisenbahn wurde Lyck zu einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt und zu einer rasch aufblühenden Stadt in Masuren.14 Eine andere Ansichtskarte, die die masurische Bevölkerung als rückständig und arm inszeniert, ist die Postkarte aus dem Verlag Johannes Fahrun.15 Sie zeigt eine masurische Familie in einer ländlichen Hütte während des Winters beim Flicken von Fischernetzen. Die Darstellung der manuellen Netzreparatur könnte, insbesondere bei Rezipient*innen aus westlichen und industrialisierten Teilen Deutschlands, mit Vorstellungen von Rückständigkeit einhergegangen sein. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die hohe Konzentration von Menschen auf relativ kleinem Raum. Die masurische Bevölkerung, stereotyp als arme und rückständige Gemeinschaft dargestellt, rückte neben den litauischsprachigen Bewohner*innen in der historischen Region Preußisch-Litauen die Provinz Ostpreußen in ein exotisches Licht.16 Im Deutschen Kaiserreich, in dem sich Wissenschaft und Industrie entwickelten und die Bevölkerung in den Städten rasant anstieg, schienen die fernöstlichen Provinzen eine ganz andere Welt zu sein. In Ost- und Westpreußen war die Modernisierung zwar präsent, aber lange Zeit koexistierte sie mit der scheinbar traditionellen Welt jener ethnischen Gruppen, die diese Gebiete bewohnten.
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