Leseprobe

q 134 Deutsches Kaiserreich Diese vermeintliche Rückständigkeit wurde allerdings bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs nicht zwingend von pejorativen Untertönen begleitet. Abbildung Nr. 2 zeigt eine traditionelle masurische strohgedeckte Holzhütte, vor der eine saubere, adrett gekleidete Familie versammelt ist. Neben der Hütte stehen gusseiserne Kübel – wahrscheinlich ein Produkt deutscher Industrie. Das Foto wurde im Dorf Nieden (heute Nida, Stadtteil von Ruciane-Nida) am Nieder-See im Herzen der Johannisburger Heide aufgenommen – einem der abgelegensten Teile Masurens. Die Postkarte wurde in wunderschönen Farben herausgegeben, was ihr zusätzliche Ausdruckskraft verleiht. Wie bei den zuvor besprochenen Postkarten wurden auch auf dieser Postkarte Masuren und die masurische Bevölkerung als eine Art Gegensatz zum industrialisierten Westdeutschland dargestellt. Dennoch sind Armut und Rückständigkeit in diesem Fall nicht mehr spürbar. Es dominiert eine friedliche Szene aus dem ländlichen Leben einer Gemeinde fernab der Hektik der modernen Welt. Das bescheidene Leben einer masurischen Familie erscheint eher idyllisch als überwältigend arm. In ähnlicher Atmosphäre sind viele Postkarten gehalten, die die Bevölkerung Masurens und des Ermlands beim Fischen und Holzflößen zeigen oder am Ufer des Sees rastende Kinder abbilden (Abb. 3). Postkarten wurden sowohl von lokalen Verlegern als auch von deutschen Großbetrieben herausgegeben und richteten sich hauptsächlich an den innerdeutschen Markt. Es fand eine sichtbare Abkehr vom Thema Armut statt und ethnische Markierungen fehlen weitgehend. Sie wurden durch die Symbolik der Natur und einfacher Menschen ersetzt, die sich alltäglichen Aktivitäten und einfachen Freuden wie Angeln oder Entspannen am See widmen. Neben der masurischen Bevölkerung war mit den sogenannten Altgläubigen eine weitere ethnische Gruppe auf den Postkarten vertreten. Mehr noch als die masurische Bevölkerung bedienten Altgläubige das Motiv der lokalen Exotik auf Postkarten an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und kontrastierten damit Modernisierungsprozesse. Verlage gaben Postkarten mit Darstellungen von Altgläubigen relativ häufig heraus. Ein Beispiel für eine solche Postkarte ist die Abbildung Nr. 4. Die Postkarte zeigt Nonnen und Priester aus dem Kloster der Altgläubigen in Eckertsdorf in Masuren. In den evangelischen Masuren war die orthodoxe Enklave mitten im Wald eine Art exotische Insel und als dementsprechend exotisch wurden Altgläubige auf Postkarten dargestellt. Personen dieser Konfession hatten sich in den 1830er Jahren in Ostpreußen niedergelassen. Aufgrund der geringen Anzahl und Kompaktheit der Siedlung, die sich auf etwa ein Dutzend Dörfer beschränkte, behielt diese Bevölkerung eigene Bräuche, Kleidung und ein distinktes äußeres Erscheinungsbild bei. Vor allem die Männer mit langen Bärten fielen auf Postkarten durch ihr Aussehen auf. Doch auch die Bekleidung der Frauen war ein beliebtes Motiv, das sich gewissermaßen verselbstständigte. Ein interessantes Beispiel dafür ist eine Postkarte mit zwei jungen Frauen. Laut Beschriftung der Postkarte handelt es sich um »masurische Volkstrachten«, tatsächlich handelt es sich aber um junge Frauen in altgläubiger Tracht. Der Herausgeber der Postkarte war Dr. Trenkler Co. aus Leipzig.17 Der Verleger kannte die kulturellen Feinheiten im Süden Ostpreußens scheinbar nicht oder es war ihm egal, und der Name »Masuren« war bereits unter interessierten Tourist*innen beliebt. Auch auf der Postkarte, die die Nonnen und Priester aus dem Kloster der Altgläubigen in Eckertsdorf zeigt, passierte ein ähnlicher Fehler, nur dass hier der Verleger die Altgläubigen als griechisch-katholisch bezeichnete. Dieser Fehler lässt sich nicht mit Unkenntnis der örtlichen Gegebenheiten rechtfertigen, da die Postkarte in Sensburg herausgegeben wurde, das nur wenige Dutzend Kilometer vom Dorf der Altgläubigen entfernt war. Daher kam es zu einer Art Absorption – wahrscheinlich für die Bedürfnisse des Marktes – von Altgläubigen durch die Masur*innen, die damals schon als touristisches Produkt verstanden wurden. Das Beispiel zeigt zudem, dass »die Masuren« die Außenwahrnehmung des südlichen Ostpreußens als exotische Region dominierten. Berufsgruppen statt Ethnien? – Die Idyllisierung Westpreußens Für Westpreußen lassen sich im Gegensatz zu Ostpreußen kaum ethnisierte Personen auf Postkarten finden. Vielmehr stehen Berufsgruppen im Fokus. Womöglich lag dies daran, dass es in Westpreußen keine optisch so markante Gruppe gab wie in Ostpreußen die Altgläubigen. Es sei daran erinnert, dass die Volkstrachten in der Kaschubei bereits im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts verschwanden18 und sich die kaschubische Bevölkerung trotz ihrer ethnischen, kulturellen und sprachlichen Besonderheiten kaum von den übrigen Bewohner*innen der Provinz unterschied.

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