Leseprobe

Warszawa und Łódź Die jüdische Bevölkerung als Inszenierungselement der multiethnischen Großstädte im Königreich Polen Małgorzata Stolarska-Fronia und Vincent Hoyer Die beiden wichtigsten Produktionsorte für Ansichtskarten im Königreich Polen waren Warszawa und Łódź. Beide Städte galten als multiethnisch und waren von starkem sozialem Gefälle geprägt, was sich auch auf das politische Leben niederschlug. Gegensätze zwischen und Zusammenarbeit von Vereinigungen unterschiedlicher sozialer Schichten, ethnisierter Kollektive und Religionsgemeinschaften sowie der russländisch dominierten Stadtverwaltung bestimmten das Stadtgeschehen. Die Außenwahrnehmung dieser sozial hoch komplexen Städte war ambivalent. Während das Königreich Polen aus der Perspektive des Deutschen Kaiserreichs oftmals mit Rückständigkeit assoziiert wurde, galt insbesondere Warszawa im Russländischen Reich als »Fenster zum Westen«.1 Beide Städte waren – auch aufgrund ihrer geografischen Nähe – wirtschaftlich und kulturell eng miteinander verflochten. So verwundert es nicht, dass viele der Postkartenproduzent*innen beide Städte belieferten und teilweise auch in beiden Städten mit Filialen vertreten waren.2 Im Folgenden werden die auf Postkarten gedruckten und so massenhaft verbreiteten Bilderwelten Warszawas und Łódź analysiert. Im Zentrum steht dabei die Frage, inwiefern sich die oben skizzierten Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Städten in den Postkartenmotiven widerspiegeln oder ob sich die visuellen Narrative unterscheiden. Um diese Frage zu beantworten, werden wir uns vor allem der Darstellung und Inszenierung ethnisierter Kollektive widmen – insbesondere der jüdischen Bevölkerung, die in den visuellen Erzählungen beider Städte eine hervorgehobene Rolle spielte. Der Aufsatz gliedert sich in drei Teile. Zunächst werden die Postkartenproduzent*innen in beiden Städten vorgestellt und eingeordnet. Ein zweiter Teil analysiert die Darstellungen der beiden Städte auf Postkarten. Zuletzt werden die Ursachen für die visuellen Narrative diskutiert.3 Wir werden uns für die Analyse auf zwei Verlage fokussieren, die sowohl aufgrund ihrer massenhaften Produktion als auch ihres Zielpublikums hervorstechen. Der Verlag Abraham Icchak Ostrowski war einer der größten Verlage in der Region und produzierte zahlreiche Ansichten beider Städte. Er richtete seine Ware an ein breites Publikum, was sich auch in der Vielfalt seiner Postkarten niederschlägt. Der Verlag Jehudia aus Warszawa bediente vor allem ein jüdisches Publikum. Der Verkauf beschränkte sich dabei nicht auf die Grenzen des Imperiums, sondern der Verlag verschickte seine Karten teilweise sogar bis nach Nordamerika. Diese Postkarten zeichneten sich zudem durch die theatralische Darstellung der Szenen aus. Die Verlage von Ostrowski und Jehudia prägten die Bildprogamme der beiden Städte maßgeblich.4 Zur Postkartenproduktion in Warszawa und Łódź wurde bisher kaum geforscht. In den wenigen Werken zu Ansichtskarten in den beiden Städten stehen vor allem Stadtansichten im Fokus, nur ein Bruchteil berichtet über Personen beziehungsweise sogenannte Volkstypen.5 Grundlegende Informationen zur Postkartenproduktion in Łódź bieten eine Ausgabe der Zeitschrift Filokartysta (Philokartist) sowie der Słownik nakładców i wydawców pocztówek na Ziemiach Polskich, oraz poloników (Wörterbuch der Postkartenverlage und Verleger in den polnischen Ländern und Polonika).6 Zwei Bildbände Ryszard Bronisławskis bündeln zahlreiche Ansichten von Łódź. Allerdings konzentrieren diese sich stark auf die Bildseiten, weniger jedoch auf die Rückseiten, die Aufschluss über die Bedingungen ihrer Produktion geben können.7 Weitere Postkarten wurden zu illustrativen Zwecken verwendet, ohne jedoch die Quelle selbst zu hinterfragen. Ein Beispiel dafür ist das 2011 erschienene Buch Żydzi w Łodzi w latach zaborów 1793–1914 (Juden in Łódź während der Teilung Polens), auf dessen Umschlag ein Fragment einer Postkarte von Abraham Ostrowski zu sehen ist, auf dem ein jüdischer Mann dargestellt wurde. Informationen zu einzelnen Serien und Verlagen wie Jehudia und Postkarten mit jüdischen Motiven sind in Kurzstudien und Artikeln zu finden. Einen allgemeinen Überblick über die Postkarten­

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