Leseprobe

q 154 Russländisches Reich Ethnische Markierungen auf den Straßen Warszawas Produzent *innen aus Warszawa spezialisierten sich auf Ansichten von Hauptstraßen und Plätzen, darunter die ul. Marszałkowska, ul. Krakowskie Przedmieście, die Aleje Jerozolimskie, der plac Zamkowy, plac Bankowy und plac św. Aleksandra (heute plac Trzech Krzyży), vertrieben aber manchmal auch Ansichten von Vororten und weniger repräsentativen Orten. Ein sehr wichtiges Element dieser großstädtischen Erzählung, die auf den Postkarten von Warszawa dargestellt wird, sind Menschen – Vertreter*innen verschiedener Geschlechter und Berufe. Unter den Passant*innen sehen wir auf den Postkarten einen ganzen Querschnitt des Bürgertums in Warszawa aus der zweiten Hälfte des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts. Neben den allgegenwärtigen Kutschern, Männern mit Melonen-Hüten und elegant gekleideten Frauen sieht man auch Vertreter*innen anderer Gesellschaftsschichten: vor ihren Werkstätten stehende Handwerker, Bedienstete auf dem Rückweg vom Markt oder Mittelstufenschüler*innen mit ihren charakteristischen Hüten. In diesem Menschengewirr sind sie alle Bewohner*innen Warszawas, die sich ethnischnational kaum unterscheiden. Sie treten nicht als ethnische Typen in dem Sinne auf, wie wir es von Postkarten aus anderen Regionen kennen. In der Großstadt Warszawa wird der Raum weniger durch die Menschen ethnisch markiert, sondern durch die Sakralarchitektur.35 Ein seltenes Bild auf Postkarten aus der Hauptstadt ist das farbige Bild der Synagoge in der ul. Szeroka (heute ul. ks. Ignacego Kłopotowskiego), erschienen um 1915 in Abraham Ostrowskis Verlag.36 Die am häufigsten abgebildeten Sakralbauten waren unter anderem die klassizistische Kirche St. Alexander auf dem plac św. Aleksandra, die neugotische Kirche St. Florian im Stadtteil Praga, die Evangelisch-Augsburgische Kirche am plac Stanisława Małachowskiego, die orthodoxe fünfkuppelige Kathedrale St. Alexander Newski auf dem plac Saski und die Synagoge am plac Tłomackie. Die beiden letztgenannten Sakralbauten, die heute nicht mehr erhalten sind (das als Akt der Russifizierung interpretierte orthodoxe Gotteshaus wurde in den 1920er Jahren abgetragen, und die Synagoge wurde 1943 von den Deutschen gesprengt), sind auf den Postkarten größtenteils ohne Menschen dargestellt. Im Gegensatz dazu spielt sich auf Ansichten der Kirche St. Alexander, im Herzen der Stadt gelegen, das hektische Stadtleben ab: Eine Straßenbahn und dahinter eine Kutsche fahren durch das Bild, ein Lieferant schiebt einen mit Warenkörben gefüllten Karren, vor der Kirche stehen mehrere Hausmeister mit einer Gruppe von Kindern. Im Gegensatz zu diesen Darstellungen wirken sowohl die Kirche als auch die Synagoge wie aus dem urbanen Kontext herausgerissene Blöcke – monumental, imposant und schön, aber häufig menschenleer.37 Die drei an den Teilungen Polens beteiligten Staaten – das Russländische Reich, das Habsburgerreich sowie das Deutsche Kaiserreich – verwendeten sowohl vor dem Ersten Weltkrieg als auch währenddessen Postkarten zu Propagandazwecken38 und benutzten ethnische und nationale Bilder, um ihre Vorherrschaft in der Stadt zu betonen. Die nationalen Zuschreibungen der Gebäude in Warszawa änderten sich demnach wiederholt. Das auffälligste Beispiel ist der Staszic-Palast, in dem sich der Sitz der Towarzystwo Przyjaciół Nauk (Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften) befand. Dieser wurde während der russländischen Herrschaft 1892 im Stil der orthodoxen Kirchenarchitektur umgebaut, da er einem neuen Zweck dienen sollte: Aus dem Palast wurde eine Hauskirche, die der heiligen Tatjana von Rom gewidmet war. Ein solches Bild wurde auf vielen Postkarten verbreitet, darunter auch die von A. J. Ostrowski produzierten. Ostrowski veröffentlichte sogar in einem Band zwei verschiedene Ansichten des Staszic-Palasts – vor und nach dem Umbau. Um zu vermitteln, welche Bevölkerungsgruppen in der Stadt lebten, wurden Serien erstellt, die ethnische Typen zeigten. Diese kontrastierten die auf den ersten Blick kaum differenzierbare Bevölkerung auf den Gebäude- und Straßenansichten. Diesem Zweck dienten spezielle Postkartenformate, die in der Regel in Ateliers hergestellt wurden und die sogenannten Typy warszawskie (Typen Warszawas) zeigten. Ungefähr um 1909 gab der Verlag von Konstanty Wojutyński eine Reihe von farbigen Postkarten heraus, auf denen Personen abgebildet waren, die im Atelier posierten, wie zum Beispiel ein Verkäufer von Lotterielosen, ein Pelzhändler oder ein Teppichverkäufer mit einer türkischen Pfeife. Alle tragen die Signatur »Typy z bruku warszawskiego« (Typen vom Pflaster Warszawas), wobei ihr Beruf weder auf der Vorderseite noch auf der Rückseite ausdrücklich genannt wird. Auch auf den Postkarten anderer Verlage sind bestimmte Einwohner*innen abgebildet, womit sie sich dem beliebten Trend der Darstellung regionaler Typen anschlossen. Dargestellt wurden Personen, die in

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