Leseprobe

Rumänischer Orient, russländische Peripherie? Ethnische Ansichtskarten aus der Dobrudscha und aus Bessarabien um 1900 Tobias Weger Die Beschriftungen sogenannter ethnischer Ansichtskarten um 1900 sagen sicherlich ebenso viel über deren Charakter aus wie deren eigentliche Bilddarstellungen. Hier lassen sich für die beiden im Folgenden untersuchten Regionen – die rumänische Dobrudscha und das russländische Bessarabien – bereits auf den ersten Blick markante Unterschiede feststellen. Tipuri din Dobrogea (Typen aus der Dobrudscha) heißen solche Karten zumeist im ersten, vornehm-französisch formuliert hingegen Souvenir de Bessarabie (Souvenir aus Bessarabien) im zweiten Fall. In diesem Beitrag wird, nach einer knappen Präsentation beider Regionen und des Forschungsstands zu den dort einst vertriebenen Bildpostkarten, die jeweilige regionale Ansichtskartenproduktion vorgestellt, soweit sich diese rekonstruieren ließ. Für die Dobrudscha und Bessarabien werden sodann aussagekräftige Beispiele für ethnische Ansichtskarten beschrieben. Vor dem Hintergrund zeitgenössischer demografischer Erhebungen wird dabei der Frage nachgegangen, welche Gruppen auf Ansichtskarten abgebildet wurden und welche regionalen Bewohner*innen auf diesem Bildmedium unberücksichtigt geblieben sind. Dabei ist auch nach den wechselseitigen Beziehungen zwischen Kartenfotograf*innen, -verleger*innen, -schreibenden und -sammler*innen zu fragen, soweit sich diese aus dem vorhandenen Material ermitteln lassen. Die verschiedenen Argumentationsstränge werden in einem abschließenden Fazit gebündelt, zugleich aber auch noch offene Fragen für weitere Forschungen skizziert. Die Dobrudscha (rum. Dobrogea, bg. Dobrudža) und Bessarabien (rum. Basarabia, ukr. Bessarabija, russ. Bessarabija) sind zwei überwiegend von Steppenlandschaften bestimmte südosteuropäische Regionen, die westlich ans Schwarze Meer anrainen. Der Mündungslauf der Donau und deren Delta trennen die beiden Regionen voneinander. Sowohl die Dobrudscha als auch Bessarabien waren mehrere Jahrhunderte hindurch administrative Bestandteile des Osmanischen Reichs. Als eine Folge militärischer Operationen der zaristischen Armee annektierte das Russländische Reich mit dem Frieden von București am 28. Mai 1812 die östliche Hälfte des Fürstentums Moldau. Sie wurde 1822 zunächst dem Generalgouvernement Neurussland-Bessarabien (russ. Novorossijsko-Bessarabskoje general-gubernatorstvo) zugeordnet, aber 1873 zum eigenständigen Gouvernement Bessarabien (Bessarabskaja gubernija) erhoben. Vom Ende des Ersten Weltkriegs bis zur sowjetischen Annexion 1940 gehörte Bessarabien zu Großrumänien; heute ist dieses Gebiet auf die Ukraine und die Republik Moldau aufgeteilt. Auch die Dobrudscha veränderte ihre staatliche Zugehörigkeit: Nach den Vereinbarungen des Berliner Vertrags vom 13. Juli 1878 gelangte deren Nordteil als Folge des Russisch-Osmanischen Krieges von 1877/78 an Rumänien, während die europäischen Großmächte das südliche Drittel Bulgarien zuteilten. Vom Ende des Zweiten Balkankriegs (1913) bis zum Vertrag von Craiova (1940) gehörte jedoch auch die Süddobrudscha, das aufgrund seiner Umrisse so bezeichnete Cadrilater, zum Königreich Rumänien. Es gibt gute Gründe, die ethnische Vermarktung beider Regionen in Form von Ansichtskarten in einem gemeinsamen Beitrag zu behandeln. Die verbindende osmanische Vergangenheit ist bereits angeführt worden. Die Dobrudscha und Bessarabien wiesen um 1900 eine in multipler Hinsicht sehr stark differenzierte Bevölkerung auf. Das betraf sowohl die ethnische Herkunft der einzelnen Bewohner*innen und deren sprachliche Praktiken als auch deren sozialen Status und religiöse Denominationen. Neben sunnitischen Muslim*­ innen und Jüd*innen lebten dort Christ*innen unterschiedlicher Konfessionen – Orthodoxe, Altgläubige, Lutheraner*innen, Katholik*innen und Angehörige von Freikirchen. Auch in Bezug auf die soziale Schichtung

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