Leseprobe

q 216 Russländisches Reich der Bevölkerung existierten zwischen der Dobrudscha und Bessarabien gewisse Analogien: In beiden Regionen wohnten die meisten Menschen auf dem Land und gingen mehrheitlich landwirtschaftlichen oder handwerklichen Berufen nach. Jede Region zählte neben mehreren Marktorten sowie kleinen und mittelgroßen Städten jeweils nur eine wirkliche Großstadt – die aufstrebende Hafenmetropole Constanța in der Dobrudscha und Kišinëv (rum. Chișinău) in Bessarabien. Ein leicht zu überblickender Forschungsstand Die Philokartistik weist in Bezug auf die Dobrudscha und Bessarabien unterschiedlich entwickelte Forschungsstände auf. Insbesondere in den letzten drei Jahrzehnten sind in beiden Regionen historische Ansichtskarten häufig zu illustrativen Zwecken in populären Geschichtsdarstellungen mit lokalem oder regionalem Bezug abgedruckt worden. Eine Reihe von Sammelnden in der rumänischen Dobrudscha und in der heutigen Republik Moldau nehmen sich dieser Bildquellen aus den genannten Regionen an. Auf diversen einschlägigen Auktions- und Verkaufsportalen im Internet werden Ansichtskarten aus der Dobrudscha und aus Bessarabien angeboten. Sie sind in der Regel im Vergleich zu Karten aus anderen Landstrichen im östlichen Europa hochpreisig.1 Das lässt auf vergleichsweise niedrige Auflagenhöhen beziehungsweise geringe auf dem Markt frei verfügbare Quantitäten und ein beträchtliches Sammlungsinteresse schließen. Zum Kreis der passionierten Dobrudscha-Sammler*innen gehört der selbst in der Region gebürtige Ingenieur Gheorghe Stănescu, der bereits zwei Bildbände mit qualitativ guten Wiedergaben vorgelegt hat.2 Diese Publikationen liefern brauchbares Anschauungsmaterial, entbehren aber einer systematischen Analyse oder Interpretation des vorgelegten Bildmaterials. Während sich die Marktpreise für historische Ansichtskarten aus Bessarabien in vergleichbaren Höhen bewegen, fällt die Forschungslage für diese Region günstiger aus als für die Dobrudscha. In der moldauischen Hauptstadt entsteht gerade eine mehrbändige Edition und Darstellung von Aureliu Ciobanu und Constantin Gh. Ciobanu, die nach dem aktuellen Stand die Zeit bis zur Endphase des Zweiten Weltkriegs abdeckt.3 Diese beiden Autoren haben 2014 auch eine rumänischdeutsche Monografie über den Kartenverleger Alexander-Wilhelm Wolkenberg auf den Markt gebracht, von dem noch die Rede sein wird.4 Zu Wolkenberg hatte bereits 2010 Veronica Cosovan, eine Mitarbeiterin der Moldauischen Nationalbibliothek, einen fundierten Fachartikel verfasst.5 Zu erwähnen ist außerdem das Online-Portal Imago Romaniae des Muzeul Național de Istorie a României (MNIR, Nationales Geschichtsmuseum Rumäniens) in București. Für die Dobrudscha ist eine Auswahl aus der Ansichtskarten- und Fotosammlung des MNIR auch in Buchform erschienen.6 Ein analoger Bessarabien-Band ist ebenfalls zum Teil mit Ansichtskarten aus dem MNIR illustriert worden.7 Auch die Biblioteca Națională Digitală Moldavica (Digitale Nationalbibliothek) in Chişinău enthält eine beträchtliche Sammlung von Ansichtskarten vom Beginn des 20. Jahrhunderts.8 Ansichtskarten aus der Dobrudscha Die Entwicklung der Ansichtskarte in der Dobrudscha folgte deren Verbreitung in anderen europäischen Regionen. Im sogenannten Altreich (rum. Regatul) – dem 1861 realisierten Zusammenschluss der bisherigen Fürstentümer Walachei und Moldau im gemeinsamen Fürstentum Rumänien – war bereits am 31. März 1873 mit einem eigenen Postkarten-Gesetz (Legea asupra cărților de poștă) nach dem Muster anderer Länder die Verwendung von Korrespondenzkarten im Briefverkehr zugelassen worden.9 Allerdings zogen sich die Einführung und die Verwendung gedruckter Ansichtskarten noch bis 1894/95 hin. Zu dieser Zeit war die Dobrudscha bereits ein Bestandteil Rumäniens geworden. Ausgehend von dessen Hauptstadt București breitete sich das praktische Kommunikationsmedium rasch in allen Regionen des 1881 zum Königreich erhobenen Landes aus. »Rien d’intéressant à signaler.«10 Den lakonischen und pejorativen Kommentar, es gebe in Bezug auf rumänische Ansichtskarten nichts Interessantes zu vermelden, gebrauchte im Jahr 1924 rückblickend der Belgier Lionel Renieu – eigentlich Lionel Wiener (1878–1940) – in seiner in Brüssel veröffentlichten AnsichtskartenMonografie. Renieu legte seinen Bewertungen in erster Linie ästhetische Maßstäbe zugrunde; er zeigte zwar ein prinzipielles Interesse an Trachten- und Uniformdarstellungen, ethnografisch motivierte Ansichtskarten

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1