Leseprobe

13 12 heute in magisch wachsamer und mahnender Intensität. In der Form mit architektonischem Schmuck vergleichbar verkörpert der aus dem 16. Jahrhundert stammende »Grüne Mann« (Abb. S. 72) die Verbindung mit der Natur. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war er auf Schlusssteinen oder Chorgestühlen zu finden. Bart und Haare dieses wilden Mannes haben oft die Gestalt von Blättern. Deswegen wurde er als Personifikation des römischen Waldgotts Silvanus gesehen und war vor allem auf den Britischen Inseln sehr verbreitet. Diese Überzeitlichkeit der Exponate ist ein essentieller Bestandteil der Sammlung. Hier werden die vergangene Zeit und ihre damaligen künstlerischen Mittel sowie zugleich ihre Unabhängigkeit von der Zeit deutlich: Die Kunstwerke erscheinen im Hier und Jetzt aktuell und berühren uns im Heute. Es ist dem besonderen Gespür und der umfassenden Kenntnis von Anna und Michael Haas geschuldet, dass sie genau diese Qualitäten der Allgemeingültigkeit finden – oftmals in damals wie heute unterschätzten oder inzwischen vergessenen Kunstwerken. So findet beispielsweise Frédéric Bazilles (1841–1870) »Junge Frau mit gesenktem Blick« (Abb. S. 46) Eingang in die Sammlung. Der für seine Pleinair-Landschaften und Porträts bekannte studierte Mediziner gilt als einer der ersten Impressionisten. Die enigmatische, in sich gekehrte junge Frau mit ihren rosigen Wangen und dem schmeichelnden Licht auf ihrem Gesicht verzaubert auch heute, weil sie über die Zeiten hinweg zu uns spricht. 1868, zwei Jahre vor Bazilles’ frühem Tod, entsteht das Gemälde in seinem Atelier nahe der École Nationale Supérieure des BeauxArts in der Rue Visconti, das er sich mit dem gleichaltrigen Malerkollegen Auguste Renoir (1841–1919) teilt. Die beiden verbindet eine enge Freundschaft und wahrscheinlich nutzen sie dasselbe Modell. Die im gleichen Jahr gemalte Diana von Renoir, die sich heute in der National Gallery of Art in Washington befindet, hat dieselben Gesichtszüge (Abb. 1). Ein Künstler, der ebenfalls vermag, Zeit zu transzendieren, ist Albrecht Dürer (1471–1528). Mit nur 28 Jahren schafft er sein ikonisches, idealisiertes und jesusähnliches »Selbstbildnis im Pelzrock«, 1500 (Abb. 2). Es ist eines der bekanntesten Selbstbildnisse der Kunstgeschichte, vielfach besprochen und oft kopiert, wie 1818 von dem zu der Zeit 32-jährigen deutschen Lithografen Ferdinand Piloty (1786–1844, Abb. S. 112). Es ist eine Auftragsarbeit des damaligen Direktors der Galerien und Museen des Bayerischen Königshauses Christian Mannlich (1741–1822), in dessen Rahmen er Kunstwerke aus den königlichen Sammlungen von unterschiedlichen Künstlern reproduzieren lässt. Piloty entscheidet sich, den Ausschnitt zu verkleinern und sich auf die Frontalansicht des Dargestellten zu konzentrieren. Auch wenn Pilotys Blatt eine verblüffend getreue Kopie ist, so ist die Lithografie naturgemäß spiegelverkehrt zum Original. Das Faszinierende ist der Blick, der direkt auf die Betrachtenden gerichtet zu sein scheint. Aber er erfasst das Gegenüber nicht, sondern scheint durch dieses hindurchzusehen. Dürers Blick ist introspektiv. Er ist präsent und doch weit weg. For this reason, he was viewed as a personification of the Roman forest god, Silvanus. This supratemporality of the exhibits is integral to the collection. The past and its historic artistic means emerge here, as well as their inherent detachment from time itself: the artworks still seem topical in the here and now, connecting with us in the present in an immediate way. This derives from Anna and Michael Haas’s remarkable intuition and extensive knowledge, which enables them to pinpoint these very qualities of universality – often in artworks that were then, as now, undervalued or have long since been forgotten. Frédéric Bazille’s (1841–1870) “Young Woman with Lowered Eyes” (fig. p. 46), for example, finds its way into the collection. Known for his plein air landscapes and portraits, the trained physician is considered one of the first Impressionists. The enigmatic, introverted young woman with her rosy cheeks and the flattering light on her face enchants us to this day because she speaks to us across the ages. The painting was made in 1868 – two years before Bazilles’s untimely death – in his studio near the École Nationale Supérieure des Beaux-Arts in Rue Visconti, which he shared with his peer and fellow painter, Auguste Renoir (1841–1919). The two were close friends and probably used the same model. Renoir’s Diana, painted in the same year and now held in the National Gallery of Art in Washington, has remarkably similar features (fig. 1). Albrecht Dürer (1471– 1528) is another artist who also had the ability to transcend time in his work. At the age of just twenty-eight, he painted his iconic, idealised and Christ-like “Selbstbildnis im Pelzrock” (Self-portrait) in 1500 (fig. 2). It is one of the most famous self-­ portraits in art history, widely discussed and often copied, for example, by the German lithographer Ferdinand Piloty (1786–1844) in 1818, who was thirty-two at the time (fig. p. 112). It was commissioned by Christian Mannlich (1741–1822), the director of the galleries and museums of the Bavarian Crown at the time, in his drive to reproduce artworks from the royal collections by various artists. Piloty decided to reduce the detail and concentrate on the frontal aspect of the sitter. Even though Piloty’s print is an amazingly faithful copy, the lithograph is by its very nature a mirror

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