Leseprobe

»WAHRLICH, IHR KÖNNTET GAR KEINE BESSERE MASKE TRAGEN, IHR GEGENWÄRTIGEN, ALS EUER EIGNES GESICHT IST! WER KÖNNTE EUCH – ERKENNEN!« FRIEDRICH NIETZSCHE Man kann sagen, dass die (künstlerische) Auseinandersetzung mit dem menschlichen Gesicht eine anthropologische Konstante darstellt. Auch wenn sich in den prähistorischen Kulthöhlen von Lascaux, Altamira oder auf der 13 Kilometer langen Felswand im Chiribiquete-Nationalpark in Kolumbien so gut wie keine Darstellung von Gesichtern findet, so zeugt die etwa gleichalte »Venus von Brassempouy« (Abb. 3) davon, dass dem Menschen das Begreifen und Erkennen seines Seins immer schon ein Bedürfnis ist. Dieses Fragment einer Elfenbeinstatuette ist die bisher älteste bekannte Darstellung eines menschlichen Gesichts, sie entstammt dem Gravettien und ist mutmaßlich 21 000 Jahre alt. Ab der Antike gehört die Darstellung von Gesichtern in Form eines Porträts zu den Hauptthemen der Malerei, wobei sie oft heroisierend und idealisierend ist. Die Entwicklung des neuzeitlichen Porträts, das Individualität und Wesenhaftigkeit zu erfassen sucht, nimmt ihren Beginn im Mittelalter. Was Anna und Michael Haas an den Darstellungen von Gesichtern oder Köpfen interessiert, sind genau die Punkte, an denen Individualität und Wesenhaftigkeit mit Maskierung und Maskenhaftigkeit eine künstlerisch interessante Verbindung eingehen. Ein solcher Wendepunkt findet sich beispielsweise in der Kunst Marwans (1934–2016). Seit den 1970er Jahren umkreist der Maler »das menschliche Antlitz als Verlust von Gesicht. […] Auf der Schwelle von Porträt und Landschaft verschmelzen die Köpfe jenseits der Ratio zu Überblendungen existenzieller Unruhe. Der Fokus auf Mensch und Natur entwirft Gesichter, so gewaltig wie Bergmassive – eindringliche Metaphern des Daseins«, wie Michaela Nolte schreibt.2 In Gesichtslandschaft »I«, 1974 (Abb. S. 88) werden die eigenen Gesichtszüge mittels naturnaher rot-brauner, ockerfarbener, grau-grüner Farbgebung und eines langgestreckten Querformats zu einer felsigen, durch Risse und Furchen geprägten Landschaft. Der im syrischen Damaskus geborene Künstler, der 1957 nach Berlin übersiedelt, findet in der Auseinandersetzung mit der informellen Malerei seines von ihm hochgeschätzten Lehrers Hann Trier (1915–1999) in diesen von ihm entwickelten Bildarchitekturen des Kopfes eine Möglichkeit, die Figuration beizubehalten und sie gleichzeitig mit Ebenen der Abstrahierung zu verbinden. Wenn man von Marwans Perspektive auf Elfriede Lohse-Wächtlers (1899–1940) Die Absinth-Trinkerin »(Selbstbildnis)« (Abb. S. 111) blickt, so kann man die (abgekämpften) Gesichtszüge als ein zu einem Berg aufgetürmten Massiv beschreiben. Der Blick ist versteinert, ehrlich, leer und ohne Hoffnung. Das Selbstbildnis zeichnet sie um 1931, als Lohse-Wächtler völlig mittellos und erschöpft zu ihren Eltern nach Dresden zurückkehrt, von denen sie dann (erneut) in eine psychiatrische Klinik eingewiesen wird. Hier entstehen, wie schon bei ihrem ersten Klinikaufenthalt in Hamburg-Friedrichsberg, Porträts von Mitpatienten und -patientinnen. Die Bleistiftzeichnung Eine Kranke von 1932 (Abb. S. 125) ist eine solche physiognomische Studie. Der Titel reduziert die Dargestellte auf eine Diagnose oder einen Zustand, der ihr Sein alternativlos zu bestimmen scheint. Aus eigener image of the original. What fascinates is the gaze, which seems to home in on the viewer. However, it does not engage the viewer but seems to look through him or her. Dürer’s gaze is introspective. It is present and yet at the same time distant. “VERILY, YOU COULD WEAR NO BETTER MASKS, YOU PRESENT-DAY MEN, THAN YOUR OWN FACES! WHO COULD — RECOGNISE YOU!” FRIEDRICH NIETZSCHE One might assert that the (artistic) engagement with the human face is an anthropological constant. Even though there are hardly any depictions of faces in the parietal wall paintings in the prehistoric ritual caves of Lascaux and Altamira, or, indeed, on the thirteen-km long rock face in the Chiribiquete National Park in Colombia, the “Venus of Brassempouy” (fig. 3), which is similarly old, testifies to the fact that we humans have perennially felt the need to comprehend, recognise and physically acknowledge our existence. This fragment of an ivory statuette is the oldest known representation of a human face to date; it originates from the Gravettian culture of the European Upper Palaeolithic period and is putatively 21,000 years old. From antiquity onwards, the depiction of faces in the form of a portrait has been one of the main themes of painting, its impetus often glorifying and idealising. The development of the modern portrait, which seeks to capture individuality and personal essence, started life in the Middle Ages. What interests Anna and Michael Haas in the depictions of faces or heads are precisely the points at which individuality and ontology intersect in an interesting, artistic manner – in the act of wearing masks and in masquerade. Such a turning point can be found, for example, in Marwan’s art (1934–2016). Since the 1970s, the painter adumbrates “the human countenance as a loss of face. […] On the threshold of portrait and landscape, the heads fuse beyond the rational into superimpositions of existential disquietude. The focus on man and nature creates faces as immense as massifs – haunting metaphors of existence,” as Michaela Nolte eloquently describes it.2 In Face Landscape “I” (1974, fig. p. 88), the

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