Leseprobe

055 Menschenbild in unserer Zeit – erstes Darmstädter Gespräch 1959 Kaum war das Informel 1952 an die Öffentlichkeit getreten, befördert durch Galeristen, Kunstkritiker und Malerkollegen, entbrannte in diesen Kreisen eine inhaltliche Auseinandersetzung über die Zukunft der deutschen Kunst. Die vorsichtigen Schritte der jungen deutschen Maler zu einem Aufbruch weg von allen Regeln fielen zusammen mit einem schwelenden Streit zwischen Anhängern der figurativen Malerei und denen der gegenstandslosen Kunst, der seinen intellektuellen Höhepunkt im ersten der Darmstädter Gespräche (15.–17. Juli 1950) gefunden hatte. Dieses war dem Menschenbild in unserer Zeit gewidmet. Der konservative und NS-belastete Kunsthistoriker Hans Sedlmayr legte in seiner Programmrede »Über die Gefahren der modernen Kunst« den der Abstraktion innewohnenden Verlust aller humanistischen Werte15 dar. Die polemische Gegenposition hatte der Maler Willi Baumeister in seinem 1947 erschienenen Buch Das Unbekannte in der Kunst bereits bezogen.16 Die Verfechter der Moderne waren sich in ihrer allgemeinen Verteidigung der modernen Kunst gegen Sedlmayr und den Konservativismus in der Kunstwissenschaft einig, aber nicht darüber, wo die moderne Kunst aktuell gerade stand. Die Ziele der Kunst waren früher das Abbild und heute das Sinnbild. Musste die Methode der Kunstwissenschaft zur Deutung von Kunst sich nun wandeln? Möglich wäre das, indem sie nicht mehr in einer chronologischen Schau von vorangegangenen Zeiten bis zur Gegenwart die Deutungslinien zöge. Vielmehr solle vom Jetzt, aus dem Erlebnis der Gegenwart heraus, die Wissenschaft zu völlig anderen Methoden und tieferen Erkenntnissen der gegenwärtigen Kunst gelangen.17 Man versuchte offenbar vonseiten der Kunstwissenschaft, die zwölf Jahre staatlich verordnete Einheitskunst aus der wissenschaftlichen Analyse der Kunst auszublenden. Befürworter und Gegner moderner Kunst sprachen gleichermaßen von der vergangenen Krise der Kunst und setzten pauschal auf deren Erneuerung. Tradition und Schulen sollten nun nicht mehr die entscheidende Rolle spielen, sondern die persönliche Intuition der Schaffenden. Diesen Sinnfindungsprozess der Moderne als Ergebnis aus dem Darmstädter Gespräch von 1950 fasst der Kunstkritiker Will Grohmann 1953 zusammen: »Wir kommen mit der üblichen Terminologie schwer aus und haben keine neue entwickelt. Bei einigen Künstlern tritt der Rhythmus in einer nicht da gewesenen Weise als das Konstituierende der Bildform auf.«18 »Farbe als konkreter Gestaltwert«19 Farbe als Bildwert gemeinsam mit Rhythmus und Gestik verflochten Mal- und Zeichenspuren miteinander. Keine fest umrissenen Formen oder Linien, die einen Raum darstellten, sondern die Bearbeitung des jeweiligen Malmaterials bestimmten das Werden eines informellen Kunstwerks. Bisher beurteilte man Farbe nur als Farbklecks. Nun bestand die Realität der Farbe nicht mehr darin abzubilden, sondern sie erhielt einen eigenen Gestaltwert. Bekenntnis zum Romantisch-Expressiven, titelte Gerhard Hoehme sein 1957/58 entstandenes Gemälde, das in der Galerie 22 gemeinsam mit den Arbeiten der Gruppe 53 zu sehen war (Abb. 1). Hoehme gelang es hier, ganz im Haftmann’schen Sinne, mittels des Eigenwerts der Farbe und in ihrer Bearbeitung gleichzeitig Raumwirkung, Atmosphäre, Bewegung und Geschwindigkeit zu schaffen und die »›mystisch-innerliche Konstruktion‹ der Welt vor den Augen des Betrachters [zu] entfalten.«20 Gerhard Hoehme, 1920 in Greppin bei Dessau geboren, wird mit 19 als Flugzeugführer und Jagdflieger zum Kriegseinsatz in Afrika, Russland und Europa eingesetzt werden.21 Von 1948 bis 1951 studierte er Gestaltende Kunst an der Burg Giebichenstein in Halle. Dies führte ihn zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Weltsicht und abstrakten Kunst von Paul Klee und Lyonel Feininger, den beiden Bauhaus-Meistern, die an der Burg Giebichenstein das Kunstwollen mit ihrer linearen Abstraktion maßgeblich geprägt hatten.

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