Leseprobe

080 Abb. 1 Ernst Wilhelm Nay | Zwei Köpfe, 1945, Öl auf Holz, 48 × 57 cm, Museum Wiesbaden, Dauerleihgabe Archiv Nachlass Hanna Bekker vom Rath D E R Blaue Aufbruch vollzog sich bei Otto Greis als langer und suchender Prozess. Realistische Darstellungen von blühenden Kirschbäumen, Eisbären im Frankfurter Zoo oder Stillleben mit Äpfeln, wobei Letztere stark an Paul Cézanne erinnern, sind die ersten künstlerischen Versuche, die durch die Einberufung in den Kriegsdienst abrupt unterbrochen wurden (Kat.-Nrn.1–8).1 Seine Entscheidung, Künstler zu werden, fiel somit in eine denkbar ungeeignete Zeit, in der durch die Doktrin des Nationalsozialismus keine freie künstlerische Entwicklung mehr möglich war. Die Reichskammer hatte das kulturelle Leben gleichgeschaltet und somit die junge, schöpferisch tätige Generation in eine fatale Isolation gedrängt. Otto Greis hatte dennoch den festen Willen, weiterzumachen: Die prägendste Person wurde für ihn Ernst Wilhelm Nay, den er direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs kennenlernte und mit dem er eine enge Freundschaft entwickelte (vgl. Essay Feulner, S. 27–29). Dieser regte in erster Linie seinen Abschied von der Gegenständlichkeit und eines perspektivisch konstruierten Bildraums an. Laut Nays Definition besteht seine Kunst aus der »absoluten Form und reinen Lebenskraft«. »Malen, das heißt aus der Farbe das Bild formen, denn die absolute Farbe ist das Leben der Malerei, Ausdruck der Ursprünglichkeit, die wiedergewonnen ist«.2 Dabei müssen die Farben nach Farbkreisen zusammengefasst geordnet werden. Diese beiden Grundmerkmale der absoluten Form und der Farbe werden auch zum Credo für die Kunsttheorie von Otto Greis, die ab den 1960er-Jahren in der Schaffung eines »Bildraumkörpers« mündet.3 Dieser erzielt einen räumlichen Eindruck allein mithilfe von Farbwirkungen und flächenparallel gesetzten Formen. Daher verwundert es nicht, dass es zahlreiche Anklänge und Verwandtschaften zu zeitgleich von Nay gemalten Werken gibt. So beispielsweise die Serie der Baumlandschaften (Kat.-Nrn. 10–14), die eine typische Formauflösung à la Nay zeigen. Zudem verwendet er hier die von Nay adaptierte Malweise, welche einerseits die Linie durch einen dynamischen Duktus auflöst und andererseits durch ornamentale Punkte und Striche die Formung der einzelnen Flächen betont.4 Durch die Titel bleiben Assoziationen zu den als Anregung dienenden Taunuslandschaften erhalten. Die verschränkten Formen, Farben und Schattierungen bewirken, dass der lebendige Charakter der Natur, losgelöst von dem realistischen Abbild, umso mehr aus den Gemälden heraus pulsiert. Neben diesen Frühwerken, in welchen sich Greis in erster Linie mit der Auflösung der Form beschäftigt und die Farbigkeit auf wenige dunkle Töne beschränkt, stehen im Kontrast Arbeiten wie Ohne Titel (Kopf), die eine ebenso bunte Farbpalette und wieder eine vergleichbare Formauflösung wie beispielsweise die Hekate-Bilder von Nay aufweisen (vgl. Abb. 1, 2 und Abb. 7, S. 28).

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