15 Der wohl ausschlaggebende Faktor war jedoch ihr Weggang aus Deutschland. Wie so viele ihrer Generation war Ring 1938 durch die antisemitische Politik der Nationalsozialisten gezwungen worden, Berlin zu verlassen. Ende Mai 1938, im Alter von 51 Jahren, wagte sie einen Neuanfang in London. Ursprünglich war geplant, zusammen mit Walter Feilchenfeldt eine neue Kunsthandlung in der britischen Hauptstadt aufzubauen. Doch Feilchenfeldt und seine Frau Marianne Feilchenfeldt (geborene Breslauer, 1909–2001) befanden sich zum Kriegsausbruch in der Schweiz. So musste Grete Ring das Unternehmen »Paul Cassirer Limited« in einem neuen Land alleine etablieren, trotz der Schwierigkeiten einer neuen Sprache, eines fehlenden Netzwerks und der Turbulenzen des Krieges. 2 Oskar Kokoschka, Bildnis Grete Ring, um 1923, Aquarell und Zeichnung, Privatbesitz Der Umzug nach London brachte einen tiefen Einschnitt in das Leben Grete Rings. Die Verbindung zu ihrer Heimatstadt Berlin ging verloren. In diesem Moment wurde auch ihr Besitz geteilt: Der Weggang zwang sie zur Entscheidung, was sie mitnehmen oder zurücklassen sollte. 1941 musste sie wegen des Blitzkriegs ihr erstes Galeriegebäude in London verlassen; in den folgenden sechs Jahren zog sie mehrfach um. Die Spuren ihrer Arbeit verstreuten sich weiter. Dass eine so begnadete Kunsthistorikerin zu Lebzeiten nur eine einzige Monografie veröffentlichen konnte, kann sicherlich als Folge dieser örtlichen Unterbrechungen gesehen werden. Mit unserem Ausstellungsprojekt wollen wir Grete Rings Platz in der Kulturgeschichte ihrer Zeit wiederherstellen. Für die Liebermann-Villa am Wannsee hat Grete Ring eine ganz besondere Bedeutung. Der Kunstsalon Cassirer war – vor und auch nach dem Tod Paul Cassirers – einer der wichtigsten Knotenpunkte für den Verkauf von Liebermann-Werken in Berlin: Die Tätigkeiten des Kunstsalons waren maßgeblich für die öffentliche Wahrnehmung des Malers. Die Geschichte Grete Rings spiegelt auch die Geschichte der Familie Liebermann wider, vom Erfolg und Ruhm im Berlin der Weimarer Zeit über die Verfolgung durch das nationalsozialistische Regime bis hin zur erzwungenen Emigration. Grete Ring war auch mit der Familie Liebermann verwandt. Sie war durch Heirat eine Nichte Max Liebermanns: Ihre Mutter Margarethe, geborene Marckwald, war die Schwester von Martha Liebermann. Grete war mit Max und Marthas Tochter Käthe zeitlebens befreundet; 1917 wurde sie Patin von deren Tochter Maria.4 Somit eröffnet Rings Geschichte eine weitere Perspektive auf die Familien Liebermann und Marckwald sowie deren Erfahrungen in den bewegten Zeiten des frühen 20. Jahrhunderts. Mangels eines an einem Ort vereinten »Grete-Ring-Nachlasses« haben wir es uns mit diesem Projekt zur Aufgabe gemacht, einzelne Spuren zu Grete Ring zu sammeln und diese zu kontextualisieren. Durch Anfragen bei Stadt- und Landesarchiven in Deutschland, England und der Schweiz war es zum Beispiel möglich, Geburts- und Todesurkunden von Grete Ring sowie Pressemeldungen über ihre Familie und ihr frühes Leben in Berlin, Unterlagen zu ihrer Emigration 1938 und ihrer britischen Einbürgerung 1947 ausfindig zu machen. Viele dieser Materialien bilden die Grundlage für die Biografie Rings in diesem Band. Auch Hinweise zu ihrer Karriere als Kunsthistorikerin, Händlerin und Ausstellungsorganisatorin in Berlin konnten wir dank neu digitalisierter Zeitschriften, Ausstellungskatalogen und Pressematerialien rekonstruieren – das Geschäftsarchiv des Kunstsalons Cassirer wurde im Krieg weitgehend zerstört.5 Diese Materialien bilden den Ausgangspunkt für zwei Beiträge in diesem Band, die sich mit wichtigen Momenten ihrer Karriere
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