Leseprobe

61 Die wechselvolle Nutzung des Hauses Am Horn spiegelt in besonderer Weise die politische, soziale und kulturelle Entwicklung Deutschlands in der Weimarer Republik, der nationalsozialistischen Diktatur, der DDR und der Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung seit 1990 wider.  Wenige Monate war das Haus ein viel besuchter Muster- und Experimentalbau und Teil der großen Bauhaus-Ausstellung 1923.1 Von 1924 bis 1998 wurde das Haus als Wohngebäude genutzt. Ab 1973 war es im bewohnten Zustand bereits als »Hausmuseum« öffentlich zugänglich, bevor es 1996 zum UNESCO-Welterbe erklärt und 1999 nach Generalsanierung durch den Freundeskreis der Bauhaus-Universität Weimar e.V. als Ausstellungs-, Kultur- und Bildungsort eröffnet wurde. Seit 2019 ist es nach erneuter denkmalpflegerischer Ertüchtigung Teil der Klassik Stiftung Weimar mit ihrem neuen Bauhaus-Museum.  Bereits die Errichtung des Hauses in kürzester Bauzeit von nur vier Monaten im Frühjahr und Sommer 1923 war ein Abenteuer. Ohne staatliche Förderung und in Hochzeiten der Inflation gelang der Bau nur durch die privaten Kredite des Berliner Bauunternehmers Adolf Sommerfeld, für den Gropius mit dem Bauhaus gerade ein großes Wohnhaus errichtet hatte.2 Erschwerend erwies sich der Streik der Thüringer Bauarbeiter, der für dieses Objekt ausgesetzt wurde, weil Gropius mit den Bauhaus-Werkstätten 1922 für das Weimarer Gewerkschaftskartell das Denkmal für die Märzgefallenen realisiert hatte.3  Da die Kredite nicht an Sommerfeld zurückgezahlt werden konnten, fiel diesem nach Ausstellungsende vertragsgemäß das Haus mit dem beweglichen Inventar, den Möbeln, Leuchten und Textilarbeiten von Bauhaus-Studierenden zu, die das Haus für die Ausstellung ausgestattet hatten.4 Vermietung und Verkauf des Hauses erwiesen sich 1923/24 als außerordentlich schwierig,5 sodass zunächst Bauhaus-Studierende als temporäre Bewohner das Haus mit seinem Inventar 6 nutzten und sicherten. Zugleich konnten sie das Haus praktisch erproben und erste Baumängel feststellen, die vor dem Verkauf behoben werden mussten.7  Erst im September 1924 konnte das Haus an den Rechtsanwalt Friedrich Alfred Kühn verkauft werden,8 der bereits vor dem Einzug Reparatur- und Renovierungsarbeiten ausführen ließ. Er bewohnte das Haus mit seiner Lebenspartnerin Johanna Becker und ließ 1926/27 sowie 1933 durch die Weimarer Architekten Ernst Flemming und Georg Hirche umfangreiche Umbauten am Gebäude vornehmen. Das betraf einen Windfang mit Verlagerung der Kellertreppe auf der Nordseite, zwei Räume auf der Ostseite sowie einen Wintergarten als Erweiterung des Zimmers der Dame auf der Südseite.9 Die Ansicht von der Straßenseite blieb davon weitgehend unberührt. Auch der Garten wurde durch den Eigentümer nach seinen Vorstellungen grundlegend umgestaltet. Durch eine hohe Hecke entlang des Zauns und zahlreiche Baumpflanzungen wurde eine romantische Gartenidylle geschaffen und das Haus den Blicken der Öffentlichkeit entzogen.10  Mit der erzwungenen Übersiedlung des Bauhauses nach Dessau zum 1. April 1925 wurde die intensive Rezeption des Hauses Am Horn unterbrochen. Mit den Bauhaus-Bauten in Dessau, insbesondere den Meisterhäusern und der Siedlung Dessau-­ Törten, entstanden Bauten, die den Diskurs zum modernen Wohnen in eine neue Richtung lenkten. Durch die zahlreichen Bauhaus-Absolventen als Lehrende an der Staatlichen Hochschule für Architektur und Baukunst in 1 Vgl. Staatliches Bauhaus Weimar 1919–1923. Weimar 1923; Adolf Meyer: Ein Versuchshaus des Bauhauses in Weimar. München 1925; Klaus-Jürgen Winkler: Bauhaus-Alben 4. Weimar 2009. 2 Vgl. Klaus-Jürgen Winkler: Die Architektur am Bauhaus in Weimar. Berlin, München, 1993, S. 95–110 und S. 36–41. 3 Winkler (Anm. 2), S. 63–74. 4 Zur Finanzierung und Vertragsgestaltung mit Adolf Sommerfeld vgl. Alessandro Rintallo, Miniatur der Moderne? Ein Vermittlungsversuch der fast 100-jährigen Bau- und Nutzungsgeschichte des Hauses Am Horn. Masterarbeit, Bauhaus-Universität Weimar, 2020, S. 38–44. 5 Vgl. Rintallo (Anm. 4), S. 49–65. 6 Auflistung der ursprünglichen Einrichtung des Hauses Am Horn, November 1923. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Bauhaus 47, Bl. 118–123. 7 Vgl. Auflistung baulicher Mängel am Haus Am Horn, Januar 1924. Thüringisches Hauptstaatsarchiv Weimar, Bauhaus 46, Bl. 100–101. 8 Vgl. Rintallo (Anm. 4), S. 60–64. 9 Vgl. Rintallo, S. 90–96, Veranda-­ Anbau S. 104–110, bauliche Erweiterungen 1933, S. 126–136. 10 Vgl. Rintallo (Anm. 4), S. 118– 123.

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