Leseprobe

SANDSTEIN VERLAG Die Landschaft Ubbelohdes – hier und jetzt

Inhalt 6 Christoph Otterbeck, Ludwig Rinn VORWORT UND DANK 8 DIE LANDSCHAFT UBBELOHDES – HIER UND JETZT Ludwig Rinn im Gespräch mit Susanne Ließegang 24 Hendrik Ziegler ENTWICKLUNGEN DER KUNST 1890–1920 Otto Ubbelohdes Orientierungen und die Interpretationsspielräume der Kunstgeschichte 40 Kristina Gansel VON MARBURG ÜBER KÜNSTLERKOLONIEN NACH GOSSFELDEN 50 Kirsten Claudia Voigt »ICH KANN’S NICHT MEHR MIT ANSEHEN, WIE HIER ALLES VERNICHTET WIRD« Otto Ubbelohdes fotografische und malerische Reflexion von Landschaft als pars pro toto der Natur 68 Susanne Ließegang DAS ATELIER – DAS KÜNSTLERHAUS 78 Rainer Zuch »... MEINE JETZT GUT EINGEFÜHRTE FIRMA« Zu Ubbelohdes ökonomischer Situation als freiberuflicher Künstler 88 Michael Buchkremer VOM »KUPFERKRATZEN« Bemerkungen zur Stellung der Radierung im Werk Otto Ubbelohdes am Beispiel des Landschaftsbildes

104 Michael Buchkremer »LITHOGRAPHIEN KANN ICH NICHT« Otto Ubbelohdes Auseinandersetzung mit dem Flachdruckverfahren 118 Rainer Zuch ZUR MODERNITÄT DER MÄRCHENILLUSTRATIONEN UBBELOHDES 130 Siegfried Becker EINE WELT IM UMBRUCH Ubbelohdes Verhältnis zur Volkskunde und zu Natur- und Denkmalschutz 142 Christoph Otterbeck »WISSEN SIE VIELLEICHT, WANN DER KRIEG ZU ENDE GEHT?« Ubbelohde und der Erste Weltkrieg 156 Susanne Ließegang »ETWAS ANSTÄNDIGES UND PERSÖNLICHES – UND DANN IST ES NICHT... LEICHT VERDAULICH UND ANGENEHM« Der ästhetische Genuss und das Verfügbare 166 KATALOG 326 VERZEICHNIS DER ABGEBILDETEN WERKE 332 BIOGRAPHIE 348 VERZEICHNIS DER AUSSTELLUNGEN 352 BIBLIOGRAPHIE 358 IMPRESSUM

25 Vorspann: Selbst- und Fremd- stilisierung »Pegasus, Prachtbiest, spürst du den Sporn?«1 So hebt das »Epos« an, das Otto Ubbelohde aus der Kunstmetropole München an seinen Schwiegervater Richard Unger, den Direktor der Bremer Weserwerft, zum Jahreswechsel 1899 schreibt. Fabulierfreudig setzt sich der Maler mit dem mythischen Helden Bellerophon gleich, dem es gelang, mit Hilfe von Pallas Athene – der Göttin der Weisheit und Kriegsführung – das geflügelte Ross zu bändigen und, auf diesem reitend, die feuerspeiende Chimäre zu erlegen. Selbst wenn das »Epos« nicht über die zweite Strophe hinauskommt, wie Ubbelohde unumwunden eingesteht, deutet der Sohn eines Marburger Jura-Professors und Absolvent des Gymnasium Philippinum bereits mit diesem Vers seine humanistische Bildung an. Zudem aber sind ein mitreißendes Stürmen und Drängen spürbar, der Wille, den eigenen Genius zu beflügeln. Dieses Spannungsverhältnis zwischen traditionsgesättigter, bürgerlich-akademischer Bildung als beanspruchtem Ideal bei gleichzeitigem Bedürfnis nach absoluter schöpferischer Freiheit wird mit der Jahrhundertwende konstitutiv für Ubbelohdes Handeln. Es findet in dem vom Künstler gestalteten Signet der Freien Vereinigung Darmstädter Künstler, der er 1899 beitritt, seinen prägnanten bildlichen Ausdruck: Ein nackter junger Mann richtet sich auf seinem kraftvoll schreitenden Pferd auf und wendet den Blick zurück nach hinten – Aufbruch als Rückkehr zu einer als ursprünglich verstandenen Natürlichkeit mit dem antikischen männlichen Akt als noch immer gültiger kanonischer Bezugsgröße (Abb. 1).2 Ubbelohdes Wunsch nach einer sowohl künstlerischen als auch lebenspraktischen ›Umkehr‹ offenbart sich noch deutlicher in seinem bereits 1899 gefassten und im Frühjahr 1900 vollzogenen Entschluss, aus der Kunstmetropole München nach Marburg zurückzukehren, um sich in Goßfelden im oberen Lahntal in einem schlichten, selbstgeplanten Atelierhaus niederzulassen. In der bayerischen Hauptstadt hatte Ubbelohde 1884 sein Studium an der Akademie aufgenommen und seit 1890 als freier Künstler gearbeitet. 1892 hatte er zu den Gründungsmitgliedern der Münchener Secession gehört, die sich von der dortigen Künstlergenossenschaft losgesagt hatte; allerdings war er bereits 1896 zur gemäßigten Luitpold-Gruppe übergewechselt. Wiederholte Studienaufenthalte Mitte der 1890er Jahre in Worpswede bei Bremen führten nicht zum gewünschten Erfolg, denn es gelang ihm nicht, in der dortigen Künstlerkolonie Fuß zu fassen. So blieb München zunächst der Lebensmittelpunkt. Der dortigen Jugendstilbewegung war Ubbelohde doppelt verbunden: als einer der frühen Illustratoren der Wochenzeitschrift Jugend, die seit 1896 in der Isarmetropole erschien, sowie als Mitbegründer der 1897 dort geschaffenen Vereinigten Werkstätten für Kunst im Entwicklungen der Kunst 1890–1920 OTTO UBBELOHDES ORIENTIERUNGEN UND DIE INTERPRETATIONSSPIELRÄUME DER KUNSTGESCHICHTE HENDRIK ZIEGLER

26 Handwerk. Mit der Jahrhundertwende bot sich nun Otto Ubbelohde und seiner Frau Hanna – beide hatten 1897 geheiratet – die Gelegenheit, gemäß den Idealen der Lebensreformbewegung ein weitgehend autarkes, selbstbestimmtes, produktives Dasein, das es entsprechend ästhetisch zu überhöhen und zu stilisieren galt, als Selbstexperiment zu leben. Die Erbschaft nach dem Tod des Vaters im Herbst 1898 bot die ökonomische Grundlage: Für das tägliche Arbeiten in unmittelbarer Anschauung des landschaftlichen Motivs – en plein air – wurde das quirlige Kunstleben der Prinzregentenzeit gegen die ›Ein-Mann-Künstlerkolonie‹ in den Lahnauen bei Marburg eingetauscht. Damit beginnt jene Selbst- und Fremdstilisierung als zurückgezogen lebender, nur aus sich selbst schöpfender, weitgehend verkannter, doch gerade deswegen besonders »deutscher« Künstler – ein Image, das vielfältig bedient und gespeist wurde, nicht zuletzt aus den seit der Jahrhundertwende sich mehrenden Pressestimmen und ersten monographischen Würdigungen. Bereits 1904 schreibt Karl Schaefer, der damals noch Assistent des Museumsdirektors am Bremer Gewerbemuseum war und ab 1911 das Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck aufbauen sollte, in der angesehenen Wiener Vierteljahresschrift Die graphischen Künste: »Nach allerhand Streifzügen in den Tälern seiner hessischen Heimat ließ er sich [Ubbelohde] dann in dem nahe bei Marburg gelegenen Goßfelden nieder, um für sich allein ein Worpswede nach seiner Neigung zu haben.«3 Ganz ähnlich äußerst sich 1906 Christian Rauch, der gerade als Kunsthistoriker an der Universität Gießen zu lehren begann und Ubbelohde seit 1905 zur Konzeption und Mitarbeit an dem ab 1906 erscheinenden, reichlich bebilderten Jahreskalender Hessen Kunst eingeladen hatte. In der Würdigung seines künstlerischen Mitarbeiters im ersten Jahresheft heißt es unter anderem: »Aber er ist Deutscher und der Erbe alter geistiger Kultur, die noch immer im deutschen Professor ihre Krone hat. [...] Ubbelohde war 1894/95 auch in Worpswede; aber es hielt ihn dort nicht. Es waren ihm trotz der wenigen noch zu viele. Er baute sich auf der Heimaterde in Goßfelden nahe bei Marburg ein eigenes Haus in großzügiger, oft von schweren Luftstimmungen beherrschter und dann merkwürdig niederdeutsch anmutender Landschaft: Stille Gehöfte, die Lahn und viele hochstämmige Pappeln. – Sein Haus mit den einfachsten Mitteln errichtet und ausgestattet trägt bis ins Kleinste den Stempel seines Wesens. Der Grundzug ist groß, und dekorativ; und doch fehlt die Freude am kleinen Subtilen nicht, wieder den beiden Seiten seiner Künstlerindividualität entsprechend. – Ubbelohde hat noch viel zu geben, denn er beherzigt, was alle Großen dem Strebenden raten: Werde Du!«4 Der hier von Rauch bereits Anfang des Jahrhunderts angeschlagene pathetische Tonfall ist zwar durchaus zeittypisch; jedoch bildet er die Vorstufe zu einer später noch zunehmenden und während des Ersten Weltkriegs ihren ersten Kulminationspunkt erreichen1 SIGNET DER FREIEN VEREINIGUNG DARMSTÄDTER KÜNSTLER 1898/99, Zeichnung, 8,3 × 9,2 cm, OUS

27 den, sprachlich vermittelten ideologischen Vereinnahmung des Künstlers. So bezeichnet ihn etwa Bodo Ebhardt – angesehener Burgenforscher und Architekt, der im Auftrag Kaiser Wilhelms II. die Hohkönigsburg im Elsass rekonstruiert hatte – in seiner 1915 erschienenen monographischen Würdigung als einen »Propheten des Deutschtums«.5 In der Zeit des Nationalsozialismus fanden solche Zuordnungen nochmals eine Steigerung.6 Eine ihrer Grundlagen hatten jene Instrumentalisierungen in Ubbelohdes Vernetzungen mit den Macht- und Leistungseliten seiner Vaterstadt, die bereits weit vor dem Ersten Krieg entstanden waren: Die Begeisterung für Otto von Bismarck, den »Eisernen Kanzler«, dem maßgeblich die Gründung des Deutschen Reichs 1870/71 zu danken gewesen war, hatte schon mit dessen Entlassung 1890 einen Höhepunkt erreicht, die sich mit dessen Tod 1898 zu einem regelrechten Bismarck-Kult steigerte. Getragen wurde dieser von den nationalliberalen und erzkonservativen Kreisen im Reich, die seit den 1890er Jahren auch in Marburg die Oberhand hatten. Nicht anders als in zahlreichen anderen Städten des Reiches wurde daher in Marburg durch die örtlichen studentischen Korporationen der Bau eines Gedenkturms angestrebt; die Corpsstudenten versicherten sich zur Durchsetzung des Projekts der Fürsprache des nationalliberalen Vizebürgermeisters Friedrich Siebert (1831–1918), der gemeinsam mit dem konservativen Oberbürgermeister Ludwig Schüler (1836–1930) über Jahrzehnte die kommunalen Geschicke in Marburg bestimmte. Siebert war der Begründer der 1891 ins Leben gerufenen Landsmannschaft Hasso-Borussia, einer der schlagenden Studentenverbindungen Marburgs. Bereits ihr Name suggerierte die unverbrüchliche Treue Hessens zu Preußen, das 1866 Kurhessen annektiert hatte. Damit war Siebert der führende Repräsentant und Exponent der pro-preußischen studentischen Vereinigungen in Marburg. Durch dessen energischen Einsatz konnte der Bismarck-Turm schließlich ab 1901 nach leicht abgewandelten Plänen von Wilhelm Kreis auf dem Glaskopf – einer dem Landgrafenschloss gegenüberliegenden Erhebung – errichtet und 1904 eingeweiht werden.7 Aus Dankbarkeit für sein Engagement als Vorsitzender des »Ausschusses für die Errichtung einer Bismarcksäule« überreichten ihm die im Komitee vertretenen Studentenkorporationen eine Urkunde. Dass zu deren Gestaltung Otto Ubbelohde den Auftrag erhielt, ist Beleg seiner – mit der Mehrheit der Stadtgesellschaft geteilten – deutsch-nationalen Gesinnung, aber auch des Wohlwollens, das ihm Siebert und der Magistrat der Stadt entgegengebrachten (Abb. 2).8 Ubbelohde selbst hat sich indes noch 1911 selbstironisch als ›einsamer Poet‹ dargestellt, wie er – müde und überdrüssig – zum Beschauungsobjekt Marburger Bürger und Studierender geworden sei, gerade weil er sich (scheinbar) von ihnen abzugrenzen suchte (Abb. 3).9 Durch die enge Bindung seiner Kunstproduktion an seinen Lebensmittelpunkt, die Otto Ubbelohde mit der Neuausrichtung seiner Existenz 1899/1900 schuf, erhalten Werk und Biographie des Künstlers etwas Dop2 ENTWURF EINER URKUNDE FÜR BÜRGERMEISTER SIEBERT um 1907/08, Zeichnung, 63,6 × 44,7 cm, OUS

28 pelbödiges: Der Künstler scheint nicht selten zeittypische Topoi und Stereotype zu erfüllen, um sie zugleich in meist humorvoll-distanzierender Art in Frage zu stellen bzw. zu unterminieren. Leben und Schaffen Ubbelohdes sind geprägt von einem gewollten (will sagen: gelebten und in seinen Arbeiten aufscheinenden) Wechselspiel zwischen Akzeptanz und Ablehnung der gegebenen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen und Strukturen des kaiserzeitlichen Kunstbetriebs. Im Folgenden sollen daher zwei zeittypische Kunstbewegungen – die des Jugendstils und der Pleinairmalerei – exemplarisch beleuchtet werden, um genauer auszuloten, inwieweit sich Ubbelohdes Individualität und Originalität gerade in Resonanzen bzw. Dissonanzen zu ihnen entwickelte. In einer Schlussbetrachtung wird nochmals die Frage nach dem topischen Charakter von Ubbelohdes Rückzug nach Goßfelden, wo er bis zu seinem Lebensende 1922 blieb, aufgegriffen. In der bisherigen – noch immer schmalen – Forschung zum Maler ist das Schaffen des Künstlers bereits in einen breiteren Kontext gestellt worden.10 Doch bietet die Methode der Dekonstruktion noch reichlich Erkenntnispotential, um besser einsichtig zu machen, dass sowohl die Lebensführung als auch das Werk des Künstlers zu keinem Zeitpunkt seines Schaffens abgeschlossen und in unverrückbare Sinnbezüge eingespannt waren, ebenso wie auch alle diesbezüglichen Interpretationen nichts anderes als nachgereichte Versuche sind, die prinzipielle Sinnoffenheit seiner Kunst und Existenz einer scheinbar stringenten, widerspruchsfreien Festschreibung zu unterziehen.11 Es ist schon angeklungen, dass Ubbelohde sich der Aporien des eigenen Lebens und Wirkens sehr wohl bewusst war und er deswegen nicht selten einen der möglichen Auswege gewählt hat, um auf Abstand zum eigenen Ich zu gehen: Humor und Selbstironie. Jugendstil und die Verschränkung von Kunst und Leben In künstlerischer Hinsicht besteht eines der wesentlichen Anliegen des Jugendstils in der ästhetisch-humorvollen Ausgestaltung und Übersteigerung der menschlichen Existenz, einer weitgehenden Verbindung von Kunst und Leben. Daher trägt die seit 1896 im Verlag Georg Hirth erscheinende Wochenzeitschrift Jugend – auf die die Bezeichnung Jugendstil zurückgeht – auch den Nebentitel »Münchner Illustrierte für Kunst und Leben«.12 Dass die Bildfindungen dabei mitunter ins Gekünstelte, Manierierte oder Affektierte abgleiten können, wird billigend in Kauf genommen. Denn bei der Gestaltung eines Bildes oder eines Objekts kommt es nicht nur auf dessen inhaltliche Stimmigkeit oder Funktionalität an; vielmehr ist die ornamentale Großform, 3 REKTORATSBALL DER UNIVERSITÄT MARBURG IM OKTOBER 1911 1911, Zeichnung, 75,0 × 99,0 cm, KMM

29 bei der alle Bildelemente durch eine sie erfassende rhythmische Bewegung verbunden werden, das gewünschte, sicht- und spürbar zu machende Ziel. Eines der Symbole des Jugendstils ist das Fahrrad. Denn es steht für eine selbstbestimmte – zudem kraftvoll-rhythmisch auszuführende – Fortbewegungsart. Zudem wohnt dem Fahrrad ein hohes emanzipatorisches Potential inne.13 Deshalb sitzt der adrett gekleideten jungen Dame, die sich auf dem Cover der Jugend vom 28. Mai 1900 mit kessem Hüftschwung an ihr Fahrrad lehnt, ein geflügelter Amor auf der Schulter. Sein Köcher ist mit Liebespfeilen gut gefüllt, während er ihr zuredet und wertvolle Ratschläge erteilt, auf die sie zu hören scheint (Abb. 4).14 Die Erfindung des Fahrrads ging zwar schon auf den Anfang des 19. Jahrhunderts zurück, doch wurden der luftgefüllte Gummireifen sowie ein für Damen geeignetes Fahrrad ohne obere Rahmenstange erst Ende der 1880er Jahre entwickelt. Damit konnten sich Frauen bequem des Fahrrads bedienen und ihre Bewegungsfreiheit eigenständig erweitern, gleichberechtigt mit den Männern, und dabei – so suggeriert es das Titelblatt der Jugend – allerlei Abenteuer abseits elterlicher Aufsicht erleben. Das Radfahren als sportliche Freizeitbetätigung an der frischen Luft wurde integraler Bestandteil der Lebensreformbewegung, denn es half gesellschaftliche Zwänge und Konventionen, etwa in der Mode, abzuschütteln. Zudem erleichterte es breiteren bürgerlichen Schichten der Gesellschaft den Zugang zu einem intensiveren Landschafts- und Naturerlebnis. Auch Ubbelohde bediente sich des Fahrrads als erschwingliches, modernes Fortbewegungsmittel, mit dem sich der Bewegungsradius um seine neue Bleibe in Goßfelden ausweiten ließ. So konnte er in Tagestouren seine geliebten Motive im oberen Lahntal oder der Wetschaftsenke aufsuchen; im Winter wurden ersatzweise Skier dazu eingesetzt. Im bereits erwähnten Brief an den Schwiegervater vom 29. Dezember 1899 berichtet Ubbelohde von seinem Kauf eines ersten Fahrrads zwei Jahre zuvor und seinen Plänen, sich eine neue, bessere »Maschine« anzuschaffen.15 In der Jugend wurde unter anderem Ubbelohdes großformatiges Pastell-Triptychon des Grimm’schen Märchens Die Gänsemagd auf einer Doppelseite in Schwarz-Weiß abgedruckt – nur eine Nummer vor dem Wochenheft mit der Dame und ihrem Fahrrad auf dem Cover (Abb. 5).16 Das Triptychon war um 1898 entstanden und vom Städtischen Museum für Kunst und Kunstgewerbe in Halle (dem institutionellen Vorläufer des ab 1904 bestehenden Kunstmuseums Moritzburg) angekauft worden; dort befindet sich die Folge an Pastellen noch heute.17 Das Mittelbild zeigt die Königstochter, die – von ihrer eigenen Magd hintergangen – nun selbst die Gänse hüten muss. Als sie ihr gold-blondes Haar ordnen und flechten will, versucht Kurti, ein sie begleitender Gänsehüter, ihr einige Haare auszureißen. Doch kommt der Prinzessin eine Windböe zu Hilfe, die sie durch einen Zauberspruch auslöst, wodurch dem Jungen der Hut vom Haupt geweht wird und er nun seiner Kopf4 Bernhard Pankok TITELBILD in: Jugend. Münchner Illustrierte für Kunst und Leben 5, 1900, Bd. 1, H. 22, 28. Mai 1900, S. 363

41 Der Umzug Otto Ubbelohdes nach Goßfelden bei Marburg um 1900 erweckt zunächst den Eindruck, als habe sich der Maler und Grafiker nach seiner Studienzeit in München und Berührungspunkten mit den Künstlerkolonien Dachau und Worpswede für ein Außenseiterdasein fernab von Malervereinigungen entschieden, um fortan in der Abgeschiedenheit des hessischen Lahntals zu leben und zu wirken. Dass dem so nicht war, bezeugen die vielen Studienreisen in die Rhön, in den Odenwald, an den Bodensee und nach Norddeutschland, der rege Austausch mit den Willingshäuser Maler/innen Anfang des 20. Jahrhunderts sowie die Aufnahme von Mal- und Zeichenschüler/innen auf seinem Anwesen in den Sommermonaten ab 1900. Um zu verstehen, was den Künstler dazu veranlasste, sich in der Lahnaue zwischen Goßfelden und Sarnau, und nicht im städtischen Marburg, niederzulassen, hilft ein Blick auf dessen Kunst- und Naturverständnis, das er mitunter in bekannten Künstlerkolonien entwickelte. Künstlerkolonien im 19. und 20. Jahrhundert Als Antwort auf die erste Phase der Industrialisierung bildeten sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Künstlerkolonien als wichtige Orte der Kunstproduktion in Deutschland und ganz Europa. Unter ihrem Grundkonsens »zurück zur Natur« verstanden die Künstler/ innen des ausgehenden 19. Jahrhunderts keinen Rückschritt, sondern einen »Glaube[n] an das Vorwärts in größere Unabhängigkeit und Freiheit«1 und trugen damit wesentlich zur Entwicklung der Modernen Kunst bei. Dass Künstler/innen mit mehreren Orten in Verbindung gebracht wurden und vielfach Künstlerkolonien besuchten, war ein häufiges Phänomen.2 Auch Ubbelohdes Lebensweg ist Beweis dafür, dass unter verschiedenen Künstler/innen ein reger Austausch bestand, ohne sich einer festen Gruppierung und einem festgelegten Ort zu verpflichten. Die für Otto Ubbelohde prägendsten Stationen werden im Folgenden skizziert, um schlussendlich ein tiefergreifendes Verständnis für seinen persönlichen Kunst- und Wirkungsraum im Lahntal entwickeln zu können. Worpswede und die Abspaltung vom Akademismus Insgesamt drei Aufenthalte Ubbelohdes in Worpswede sind durch schriftliche und künstlerische Zeugnisse belegbar. Im Herbst 1889, dem Gründungsjahr der Künstlerkolonie, reiste Ubbelohde mit dem befreundeten Erich Otto Engel in das kleine Örtchen bei Bremen. Gemeinsam besuchten sie ihren Studienkollegen Hans am Ende, der sich kurz darauf entschloss, sich dauerhaft Von Marburg über Künstlerkolonien nach Goßfelden KRISTINA GANSEL

42 in Worpswede niederzulassen. Zusammen mit den Malern Otto Modersohn, Fritz Mackensen und Fritz Overbeck trafen sie die Entscheidung, eine Künstlergemeinschaft zu gründen. Der Volkskundler Karl Veit Riedel führt diesen Entschluss und die Faszination für die dortige Landschaft mit dem weitläufigen Teufelsmoor auf eine gemeinsame Erlebnisgrundlage und geteilte Weltanschauung der Künstler zurück, die geprägt ist von einer Liebe zur Natur und Heimat und einer damit einhergehenden Ablehnung der Verstädterung und Naturentfremdung: »Weil ein heftiges Bedürfnis nach der Verbindung von Kunst und Wirklichkeit, von malerischem Erleben und Naturbeseelung bestand, mußte die geschlossene Einheit von Land und Leben tief beeindruckend sein.«3 Wie bei den Worpsweder Malern begann auch Ubbelohdes künstlerische Laufbahn mit einer klassischen Ausbildung. 1884 zog der 17-jährige Otto Ubbelohde für das Kunststudium nach München, wo er die kommenden 16 Jahre lebte und arbeitete. Die Ausbildung an der Münchener Akademie war der traditionellen Malerei verpflichtet, von der sich die neue Künstler/ innengeneration mit Freilichtmalerei und einem Naturalismus, angelehnt an die Schule von Barbizon, zu lösen versuchte. Entgegen des kulissenhaft komponierten Landschaftsbildes, wie es in den Akademien gelehrt wurde, suchten die Worpsweder Maler die Unmittelbarkeit und das Natürliche der Landschaft darzustellen. Bereits vor seinem ersten Besuch in Worpswede reizte Ubbelohde die Idee, in der freien Natur zu malen. Während seiner Studienzeit besuchte er regelmäßig die Künstlerkolonie Dachau, wo er in Kontakt mit Ludwig Dill, Adolf Hölzel und Arthur Langhammer kam. Von München aus unternahm er weitere Studienreisen nach Murnau und an den Bodensee, um die voralpine Natur festzuhalten (Abb. 1). Bei einem der ersten Landschaftsgemälde Ubbelohdes handelt es sich um eine in Schleißheim, ebenfalls nahe München, entstandene Arbeit. Das kleinformatige Gemälde zeigt eine flache, unverstellte Wiesenlandschaft, die etwa auf Höhe der Bildmitte durch einen schmalen Grünstreifen vom hellen Himmel getrennt wird (Abb. 2). In der rechten Bildhälfte sind zwischen und oberhalb der Bäume Teile des Schleißheimer Schlosses zu erkennen, die den streng horizontal angelegten Bildaufbau etwas auflockern und einen Orientierungspunkt für die Betrachtenden bietet. Dieser streng bildparallele Aufbau, wie er in vielen um diese Zeit in und um München entstandenen Arbeiten auftritt, kann als spätes Zeugnis seiner Studienzeit gesehen werden, das noch in den frühen Worpsweder Landschaftsstudien zu beobachten ist. Während Ubbelohdes ersten Aufenthalts in Worpswede entstanden vor allem kleinformatige Zeichnungen und Ölskizzen, auch Fotografien, vornehmlich von Landschaft mit Spuren menschlichen Eingriffs in die Natur wie landwirtschaftliches Gerät, Mühlen und kleine Kanäle. Wie für den Maler üblich, 1 MURNAUER MOOS um 1889, Öl/Lw., 23,5 × 34,5 cm, OUS

43 fanden alle Tages- und Jahreszeiten Einzug in seine Natur- und Landschaftsstudien. Trotz einer ablehnenden Haltung gegenüber dem Akademismus, erinnert das leicht überspitzte Kolorit eher an die Münchner Schule, als dass es die natürliche Farbwelt der Moorlandschaft erfasst. Die Arbeiten aller Worpsweder einte in den ersten Jahren ein ähnlich zurückhaltendes Farbspektrum, das erst allmählich lebendiger und impressiver wurde, schließlich unbeschwert und flüchtig wirken konnte. In den Sommern 1894 und 1895 zog es Ubbelohde erneut nach Worpswede, diesmal in Begleitung seiner Münchener Studienkollegen Hermann Groeber und Ernst Thalheimer. Worpswede war mittlerweile zu einem attraktiven Ziel für Landschaftsmaler geworden, doch die Popularität des kleinen Dorfes und die sich dadurch anbahnende »Überfremdung« löste bei den ansässigen Künstlern Unbehagen aus.4 Dass die neuen Gäste argwöhnisch beäugt wurden, bezeugt ein Briefwechsel zwischen Modersohn und Overbeck. Der Austausch der beiden Mitbegründer der Malervereinigung liest sich, als sei das kleine ruhige norddeutsche Dorf nicht groß genug für viele wetteifernde Künstleregos. Modersohn und Overbeck sahen ihr Paradies bedroht und waren sich einig, dass Ubbelohde und seine Münchener Begleiter wortwörtlich aus der Kolonie »rausgeekelt« werden müssten, was nach dem Sommeraufenthalt 1895 zu einem harten Bruch mit den dort ansässigen Malern und einem Ende der Besuche Ubbelohdes bei der Kolonie führte. Für die Worpsweder hielt die weite Moorlandschaft und die ruhige Dorfidylle eine Harmonie bereit, die durch Eindringlinge nicht gestört werden durfte. Hiermit bildet die Gemeinschaft keinen Einzelfall, auch in der Dachauer Kolonie sind ähnliche Spannungsverhältnisse bei zunehmender nationaler und internationaler Popularität zu beobachten. Ubbelohdes Gemälde Blick vom Weyerberg bei Worpswede (Abb. 3), das bei einem der späteren Worpsweder Aufenthalten entstanden sein muss, zeigt eines der beliebten Motive der Region. Die Ansicht setzt einen unaufgeregten Landschaftsausschnitt mit einem nach vorne rechts endenden Weg ins Bild. Der Vordergrund – eine spärlich begrünte kleine Anhöhe – nimmt den Großteil der Bildfläche ein. Horizontal durch Sträucher und Bäume abgegrenzt eröffnet sich dahinter eine flache Landschaft mit einem schmalen Horizontstreifen. Das Motiv scheint anspruchslos, die Farbgebung in ihren Erdtönen bleibt zurückhaltend. Erst durch die für Ubbelohde charakteristische Lichtführung entfacht es seine Wirkungsmacht: Der verschattete Vordergrund setzt sich dabei deutlich gegen den lichtdurchfluteten Mittelgrund ab, der formal und farblich in die Horizontale übergeleitet wird, indem sich die Farbe zum Himmel aufhellt. Die erdig-grauen Farben des Vordergrunds werden so über orange und braune Töne zum Hintergrund in Grün und Rosa umgewandelt. Im Gegensatz zu zeitgleich entstandenen Arbeiten anderer Künstler/innen in Worpswede wird deutlich, dass Ubbelohde die tonige Akademiepalette 2 SCHLEISSHEIM um 1889, Öl/Lw., 23,0 × 35,0 cm, OUS

44 gegen Ende des 19. Jahrhunderts bereits überwunden und um hellere und dunklere Töne erweitert hatte. Eine klare Abgrenzung von der staatlich geförderten akademischen Malerei gelang den Künstlern allerdings damals nicht: »Sowohl bei in der Worpsweder Malerei als auch bei Ubbelohde lassen sich Verschmelzungen von impressionistischen und akademischen Darstellungsweisen finden, deren Eigenwilligkeit aber nicht allein in der Rückwendung zum Bild der Natur besteht, sondern vornehmlich in Erweiterung dieses Bildes zu einem Bild des Lebens überhaupt«,5 so Bernd Küster 1982. Aussagekräftige, schriftliche Zeugnisse Ubbelohdes über seine Zeit in Worpswede sind nicht erhalten. Begreift man jedoch auch die entstandenen Zeichnungen und Malereien als Kommentare zu der dort erlebten Zeit, so kann das Worpsweder Bauernpaar (Kat. 22) Einsichten über seine Haltung gegenüber der Künstlerkolonie bieten. Dargestellt ist ein mächtiger, leicht vorgebeugter älterer Mann in traditioneller Tracht mit steifem Hut auf einem schräg gegen die Wand gekippten Holzstuhl. Über ihm, an der Wand hängend, befindet sich Küchengerät, auf dem Boden ein grüner Eimer. Im Hintergrund, frontal zum Betrachtenden, sitzt eine Frau mit gesenktem Blick, lesend. Die Tracht der Dargestellten entspricht nicht zwangsläufig der Worpsweder, was darauf vermuten lässt, dass es sich hierbei eher um eine Erinnerung handelt, die erst später im Münchener Atelier umgesetzt worden ist.6 Der von Ubbelohde festgelegte Titel lässt jedoch keinen Zweifel aufkommen, dass es sich hier um einen Kommentar zur Worpsweder Zeit handelt. Die wuchtige Gestalt des Mannes auf dem etwas zu klein wirkenden, kippenden Stuhl hält eine Ironie bereit, mit der Ubbelohde möglicherweise auf den älteren Worpsweder Maler Mackensen zielte. Für den Marburger Maler erschien die Zurückweisung seitens der Gruppe schlussendlich kein allzu großer Verlust. Küster merkt hierzu an: »Die Topographie des Ortes bot ihm kaum eine Besonderheit, die er nicht aus Dachau kannte.«7 Die norddeutsche Landschaft hielt mit ihren flachen, kargen Mooren lediglich eine begrenzte Motivwelt bereit, die auf dem Kunstmarkt durch ihr begrenztes Angebot Attraktivität erzielen konnte. Die steigende Popularität der Region schuf ein Wettbewerbsverhältnis zwischen den Maler/innen, welches letztendlich wohl auch zu der allmächlichen Auflösung der Gruppe ab 1899 führte. Ein anhaltend freundschaftliches Verhältnis pflegte Ubbelohde zu Heinrich Vogeler, dessen ornamentale Jugendstilgraphik ihn nachhaltig für seine nach 1905 entstanden Illustrationen der Haus- und Kindermärchen der Brüder Grimm stark beeinflusst hat.8 Obgleich Ubbelohde zur Geburtsstunde der Kolonie vor Ort war und die Frühphase der Gruppe erlebte, so bleibt seine unmittelbare Beteiligung an der Gemeinschaft doch marginal. Seine kurzen Reisen in den Norden folgten immer auch einer privaten Motivation, wohnte doch seine spätere Ehefrau Hanna Unger in Bremen, was nahelegt, dass Ubbelohde bereits vor seinem erstmals dokumentierten Besuch 1884 das norddeutsche Umland bereiste. 3 VOM WEYERBERG HERAB um 1894/95, Öl/Lw., 47,5 × 67,0 cm, OUS

45 Rückkehr nach Hessen Trotz der langen Studien- und Arbeitsjahre in München war der Bezug zu seiner Heimatstadt Marburg zu keinem Zeitpunkt gänzlich abgerissen; das bezeugen zahlreiche Zeichnungen und Radierungen mit Ansichten der Stadt, wie die 1893 mit seinem Freund und Lehrer Carl Theodor Meyer-Basel veröffentlichte Mappe Marburg a. d. Lahn und Umgebung. Die Heirat mit Hanna Ubbelohde 1897 sowie der Tod seines Vaters ein Jahr später waren schließlich ausschlaggebende Gründe für die Suche nach einer dauerhaften Bleibe nahe Marburg. An der Lahnaue erwarb das frisch vermählte Paar 1899 ein später zweimal erweitertes unbebautes Grundstück, auf dem in den Folgejahren ein Wohn- und Atelierhaus entstand. Das Gebäude konzipierte Ubbelohde selbst und passte es mehrfach seinen konkreten Bedürfnissen an. Mit dem endgültigen Umzug von München nach Goßfelden 1900 entschied sich Ubbelohde für eine bewusste Beschränkung seiner Motivwelt: Die Themen in seinem malerischen Werk entstammten nun fast ausschließlich der näheren Umgebung und einem Umkreis von etwa 20 Kilometern von seinem Atelierhaus, der mit dem Fahrrad oder zu Fuß zu erreichen war. Ausnahmen bildeten gelegentliche Reisen in den Odenwald, nach Spessart, Willingshausen und Norddeutschland, wo immer auch Studien und Zeichnungen entstanden. Dass Ubbelohde die ländliche Idylle des Lahntals bedroht sah, bezeugen mehrere Briefe. So berichtete der Künstler in einem Brief an Carl Bantzer 1903 sogar von dem Vorhaben, Goßfelden für zwei Jahre zu verlassen, da ihm die baulichen und industriellen Veränderungen schwer zu schaffen machen. Er beklagte sich über die »Verhunzung der Landschaft«, die mit der Abholzung großer Bäume im Tal, die »unglaublich scheußliche[n] Wege[n]« weichen mussten, einher ging und die den künstlerischen Genuss der Region zunichte mache.9 Zu einer längeren Abkehr von Goßfelden kam es nicht, doch befeuerte den Künstler in seinem ehrenamtlichen Engagement zu Gunsten des Naturschutzes in der Dorfgemeinde. Die »Ubbelohd’sche Malschule« Ubbelohde erkannte die Potentiale des Lahntals nicht nur für sein eigenes künstlerisches Schaffen, sondern bot mit seinem Atelierhaus in Goßfelden auch einen Studienort für Künstlerinnen und Künstler aus der näheren Umgebung an. Spätestens ab 1902 nahm der Künstler regelmäßig Schüler/innen, vorwiegend in den Sommermonaten, auf und unterrichte sie in Freiluftmalerei, aber auf im Zeichnen nach Modell.

119 Märchen gelten als zeitlos. Sie werden in einem Reich angesiedelt, das von den historischen Ver- und Entwicklungen der Menschenwelt nicht berührt wird. Die frei schwebende Märchenzeit bildet einen Kontrast zur historischen Zeit, die bereits in der Welt der Brüder Grimm als maschinell getaktetes und sich laufend beschleunigendes Korsett wahrgenommen wurde.1 Ohne dass die Bedeutung von Märchen damit erschöpft wäre, bedienen sie auch die Sehnsucht nach einem einfachen und leicht durchschaubaren Weltbild, in dem die Welt noch in Ordnung schien, ohne die Brüche und Unübersichtlichkeiten der wirklichen Welt. Die Märchenwelt galt als volkstümlich, einfach strukturiert und meist idyllisch. Anspielungen auf das Mittelalter als verklärter Vergangenheit waren dabei gang und gäbe.2 Im Laufe des 19. Jahrhunderts und vor allem im Kaiserreich etablierten sich Märchen als Bestandteil des bürgerlichen Bildungskanons. Das national gesinnte deutsche Bürgertum belebte zahlreiche, von der Romantik geprägte Interessengebiete wieder, wozu das Mittelalter ebenso gehörte wie Märchen und Sagen. Im Kaiserreich wurden Grimmsche Märchen sogar als Schul- und Erziehungsstoff eingesetzt;3 auch Otto Ubbelohde dürfte als Schüler so mit ihnen in Berührung gekommen sein. Aber auch die zivilisationskritischen Lebensreformbewegungen bedienten sich der Märchen. Die Auseinandersetzung und Neulektüre von Märchen und Sagen passte zu einer Bewegung, die ein stadtfernes, Zur Modernität der Märchenillustrationen Ubbelohdes RAINER ZUCH ländlich-bäuerliches und natürliches Leben propagierte, Heimat- und Landschaftsschutz förderte und den Künsten, insbesondere der Buchkunst, sehr zugewandt war; alles Ideen, die auch in den konservativen bürgerlich-akademischen Milieus der Zeit großen Anklang fanden. Das Neben- und Miteinander von neuen und fortschrittlichen Vorstellungen, der Suche nach zivilisationsfreien Räumen und der mythischverklärenden, aber auch wissenschaftlich-lexikalischen Rekonstruktion einer mittelalterlichen Vergangenheit durchzieht als eine grundlegende Ambivalenz große Teile der Moderne.4 Auch die Märchenillustratoren, deren erster 1825 Ludwig Emil Grimm war und die maßgeblich zur Verbreitung der Grimmschen Märchen beitrugen,5 versetzten das Märchengeschehen in ein fantastisches Märchenland, in dem historische Zeit und Gegenwart nicht vorkommen. Märchen waren zu Ubbelohdes Zeiten also etwas ausgesprochen Aktuelles. Zugleich reihte sich der Künstler in eine fast hundertjährige Geschichte der Märchenillustration ein, der er mit seinen Illustrationen eine eigenwillige Wendung gab. Die Eigenständigkeit seiner Arbeit soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Ubbelohde löst die Märchen aus dem vorherrschenden freischwebenden Märchenland heraus, in dem er sie mit dem sein Gesamtwerk bestimmenden, umfassenden Landschaftskonzept verbindet und sie mittels einer

120 Verschmelzung von Zeitlosigkeit und Aktualität modernisiert. Dazu griff er eine Reihe zeitgenössischer Geistesströmungen und gesellschaftlicher Entwicklungen auf, die mit der Lebensreform, der er sich zeitlebens verpflichtet fühlte, zusammenhängen. Die Ideen der Lebensreform kreisen grundsätzlich um eine Neudefinition des Verhältnisses von Mensch und Natur.6 Für Ubbelohde schienen die Märchen ein besonders geeignetes Feld zu bilden, um seine Haltung zum Ausdruck zu bringen. In den Illustrationen vernetzte er regelrecht verschiedene lebensreformerische Ideen, was bei deren Heterogenität nicht ganz einfach zu bewerkstelligen war.7 Es ist geradezu paradox, dass er offenbar der einzige namhafte Illustrator blieb, der offen lebensreformerische Ideen in die Märchen eintrug; ein Umstand, der bisher übersehen wurde. Ubbelohdes künstlerische Auseinandersetzung mit Märchen und Sagen setzte in den späten 1890er Jahren ein und währte bis an sein Lebensende. Zwar war die Illustration der Kinder- und Hausmärchen nicht sein einziger Beitrag zum Märchenbild, jedoch stellen sie den mit Abstand bedeutendsten Teil dar.8 Darüber hinaus sind drei dem Jugendstil verpflichtete frühe Arbeiten hervorzuheben: der 20-teilige Märchenfries Die sieben Raben für ein von dem Architekten Karl Bertsch entworfenes Kinderzimmer von 1897/98,9 die Entwürfe für Märchenteppiche für die Kunstwebschule in Scherrebek10 und die Illustration der Puppenspiele von Johann Benda.11 Mit ihrer ausgeprägten flächig-geometrischen Dekorativität bilden sie einen deutlichen Kontrast zu den Illustrationen der Jubiläumsausgabe (Abb. 1, 2). Den Abschluss der Auseinandersetzung bildet der Radierzyklus Der Eisenhans von 1910.12 Mit der Illustration der Gesamtausgabe der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm war Ubbelohde etwa zehn Jahre beschäftigt. Erste Entwürfe datieren auf 1899. Die Besonderheiten und die Schwierigkeiten, mit denen der Künstler zu kämpfen hatte, sind bekannt: Es war nicht nur sein einziges selbst gewähltes Illustrationsvorhaben, sondern mit 447 Illustrationen auch sein umfangreichstes; er musste eine kleine Odyssee durch das Verlagswesen durchstehen, bis er im Turm-Verlag in Leipzig einen geeigneten Partner für die Veröffentlichung 1907 bis 1909 fand. In einem Brief an seinen Cousin Heinrich Ubbelohde schrieb Ubbelohde 1921: »Als ich die ersten Zeichnungen machte, hat mich die wunderbare, oft mit drei, vier Worten bestrittene Landschaftsschilderung gereizt.«13 Für Ubbelohde bildet die Landschaft nicht bloß einen dekorativen Hintergrund des Märchengeschehens. Landschaft ist auch nicht einfach mit Natur gleichzusetzen. Sie ist immer schon wahrgenommene und gestaltete Natur, sie entsteht erst durch den menschlichen Zugriff. Der künstlerische Blick erschafft die Landschaft aus der außerkünstlerischen Natur heraus und hält sie im Bild fest. In fast allen zeitgenössischen Kunstströmungen, die sich mit der Landschaft beschäftigen, so im Symbolismus, Impressionismus,

121 1 DIE SIEBEN RABEN Paneel aus dem Märchenfries für ein Kinderzimmer, 1899, Öl/Lw. 2 FRONTISPIZ aus: Benda 1904, S. 3 Expressionismus, Jugendstil und sogar der beginnenden Abstraktion, ist dies ein zentraler Gedanke, der sich letztlich aus der Romantik herleitet. Landschaft geht aber noch in einem anderen Sinne über die Natur hinaus, denn sie umfasst auch die Spuren menschlichen Wirkens in ihr: Dörfer, Häuser, Ackerflächen ebenso wie die in ihr agierenden Figuren wie Menschen und Tiere. Letztlich versteht sich Landschaft als eine Einheit aus all diesen Elementen. Unterstützt wird dies auch durch die Erkenntnis, dass schon zu Ubbelohdes Lebzeiten die Natur größtenteils durch menschliche Eingriffe umgestaltet worden war und sich das menschliche Wirken damit längst in sie eingeschrieben hat.14 Dafür sind seine Illustrationen zur Vorrede der Brüder Grimm bezeichnend. Ubbelohde betrat auch hier Neuland, denn außer ihm hat kein Illustrator die Grimmsche Vorrede beachtet. Auch indem er Ludwig Emil Grimms radiertes Portrait der »Märchenfrau« Dorothea Viehmann zum Vorbild für sein eigenes Portrait von ihr im Frontispiz nahm, knüpfte er an die Grimms an. Wie die Grimms in der Vorrede ausführen, fassen sie die Märchen als eine Art Naturpoesie auf. Märchen verstehen sie im romantischen Sinne als Werke ohne Autor, gleichsam absichtslos aus dem Unbewussten des Volkes entstanden. Für sie repräsentieren sie eine Einheit der Natur mit den in ihr lebenden Menschen.15 In Ubbelohdes begleitenden Bildern sehen wir mehrheitlich ländliche Figuren – einen Fischer, einen Schäfer, hessische Bauern (Abb. 3) –, die in Betrachtung der Natur und der Landschaft versunken sind. Man muss darin eine programmatische Absicht vermuten, denn Ubbelohde setzt bildlich um, was die romantische Idee der Naturpoesie meint. Es kennzeichnet seine eigene künstlerische Haltung, die die Vorstellungen der Grimms aufnimmt und wiederum die zeitgenössischen Vorstellungen um 1900 spiegelt: So wie der Mensch seinen Sinn durch die Einbettung in die Natur gewinnt, bekommt die Natur ihren Sinn erst in der menschlichen Wahrnehmung.16 Hier sind eine Wechselwirkung und ein Zusammenspiel am Werk und zugleich ein empfindliches, ökologisches Gleichgewicht. Daneben nimmt Ubbelohde die in der Vorrede betonte hessische Herkunft vieler Märchen17 durch die Verwendung hessischer Motive wie Glei- und Vetzberg bei Gießen oder der Milseburg in der Rhön auf. Seine Landschaften bilden zusammen mit den in sie eingebetteten Dörfern, Burgen und Kirchen den aufnehmenden Hintergrund für die Märchenfiguren. Das gilt nicht nur für die Illustrationen. In dem noch sehr im Sinne des Jugendstils gehaltenen Märchenfries für ein Kinderzimmer werden Landschaft, Architektur und Märchenpersonal in ihrer Gleichbehandlung als die Bildfläche rhythmisierende Farbflächen einheitlich zusammengeschlossen (Abb. 1). In der Radierfolge zum Eisenhans tritt uns der so verstandene Hintergrund – sei es der Wald als Heimat des wilden Mannes, die architektonischen Szenerien des Schlosshofs oder des königlichen Gartens – mit besonderer Eindrücklichkeit

122 entgegen, ist er doch – auch aufgrund des deutlich größeren Formats der Blätter – teilweise so dominant, dass die Figuren in ihm fast verschwinden (Abb. 5). Die Technik der Federzeichnung erlaubt dem Künstler ein vielfältiges Spiel mit Figur und (Hinter-) Grund. Oft heben sich die Figuren wie scherenschnittartige Leerformen von der Landschaft ab, als stünden sie nicht in ihr, sondern getrennt vor ihr (Abb. 6). An anderer Stelle reduziert Ubbelohde alle Bildgegenstände auf Umrisslinien, wodurch Figuren und Landschaft wieder eine Einheit eingehen. Gelegentlich wird der Hintergrund durch schwarze Flächen ersetzt, wodurch er sich aber als Hintergrund gleichsam auslöscht. Dadurch werden Figuren mit den Bäumen, vor bzw. zwischen denen sie agieren, zu einem gemeinsamen Vordergrund zusammengeschlossen (Abb. 4). Insgesamt werden die Märchenzeichnungen in ihrer Vielgestaltigkeit zu einem Kompendium der zeichnerischen Ausdrucksmöglichkeiten Ubbelohdes, welches er so geschickt einsetzt, dass dabei die Einheit der Gestaltung der Märchenbücher gewahrt bleibt. Schon aufgrund der enorm hohen Anzahl der Illustrationen wählte Ubbelohde seine Motive meist eigenständig, ohne auf Vorbilder zurückgreifen zu können. Dabei gestaltete er weniger dramatische Höhepunkte oder einprägsame Szenerien, sondern konzentrierte sich meist auf eher handlungsarme Teile. Viele Darstellungen malen eine Szene eher aus, als dass sie die Handlung hervorheben. Auch bei seinen seltenen Anknüpfungen an ikonographische Traditionen eignete er sich die Motive in charakteristischer Weise an. Nehmen wir etwa Hänsel und Gretel (Abb. 7). Die Kinder, mit stabilen Schuhen, warmer Kleidung und Wanderstock für eine Wanderung adäquat ausgerüstet, nähern sich einem oberhessischen Fachwerkhaus, bei dem die Lebkuchen nur auf einer Lade an der Hauswand stehen. Zwischen die Kinder und das Haus stellt Ubbelohde einen großen, hohlen Baum als Abstandhalter, der – mit zwei Raben im Geäst – die drohende Gefahr symbolisch andeutet. Das Szenario erscheint in einem durchaus realistischen, oberhessischen Gewand. Darin unterscheidet es sich markant von den Illustrationen des 19. Jahrhunderts wie etwa Ludwig Richter, die durchweg auf den Kontrast betont niedlicher Kinder zu der furchterregenden Hexe setzen (Abb. 8).18 Ubbelohde verweigert sich dieser »Kindertümlichkeit«,19 den berühmten Grimmschen Märchenton unterläuft er häufig. Seine Illustrationen machen deutlich, dass er die Märchen als Geschichten für Kinder und Erwachsene verstand, vor allem aber als eine künstlerische Herausforderung, die für ihn vor jeder Rezeption durch ein Publikum eine Bedeutung hatte. Er befreite aber nicht nur die Kinder aus ihrem Niedlichkeitsghetto. Auch vielen Frauengestalten verlieh er ein ganz ungewohntes Selbstbewusstsein. Sehr augenfällig ist dies bei einer seiner bekanntesten Illustrationen zu Frau Holle: Da ragt die gute Jungfrau, ein Kissen ausschüttelnd, monumental in den Wolken über

123 3 VORREDE IV: BAUERN VOR EINER RUINE KHM, um 1902/04, Zeichnung, 8,3 × 16,4 cm, OUS 4 DER FROSCHKÖNIG KHM, um 1901/03, Zeichnung, 13,7 × 18,0 cm, OUS 5 DER EISENHANS VI (DER RIESE) 1909, Radierung, 33,0 × 24,0 cm, KMM 6 DIE STERNTALER KHM, um 1908/09, Zeichnung, 19,0 × 15,1 cm, OUS

RUINE SCHOPFELN (2) | UM 1893 47,5 × 67,0 cm · Kat.-Nr. 14 RUINE SCHOPFELN (1), SKIZZE | UM 1893 48,0 × 68,0 cm · Kat.-Nr. 13

RUINE SCHOPFELN (3) | UM 1893 73,0 × 102,5 cm · Kat.-Nr. 15

WINTERMORGEN | UM 1902/03 54,2 × 81,0 cm · Kat.-Nr. 36

AUS DER RHÖN (1) | UM 1902/03 74,9 × 110,9 cm · Kat.-Nr. 37

DIE AUE VOR DEM BURGWALD | UM 1905 68,0 × 88,4 cm · Kat.-Nr. 46

EINSAME HÖHE (1) | UM 1905 117,0 × 166,5 cm · Kat.-Nr. 47

DER EMPFANG DES AUS DER GEFANGENSCHAFT ENTLASSENEN KURFÜRSTEN JOHANN FRIEDRICH, SKIZZE | UM 1907 52,5 × 64,5 cm · Kat.-Nr. 48

DER EMPFANG DES AUS DER GEFANGENSCHAFT ENTLASSENEN KURFÜRSTEN JOHANN FRIEDRICH | 1907/08 159,0 × 199,0 cm · Kat.-Nr. 49

ABENDSTIMMUNG IM DORF | 1920 67,5 × 83,0 cm · Kat.-Nr. 95

HERBSTLICHE WÄLDER | 1920 70,0 × 140,0 cm · Kat.-Nr. 96

TOR DER RUINE FRAUENBERG, SKIZZE | UM 1905 29,1 × 31,3 cm · Kat.-Nr. 123

AN DER ALTEN LANDSTRASSE, VORZEICHNUNG | UM 1905 11,5 × 21,9 cm · Kat.-Nr. 124

332 1867 Otto Ubbelohde wird am 5. 1. 1867 in Marburg geboren. Vater · August Ubbelohde (* Hannover 18. 11. 1833, † Marburg 30. 9. 1898), seit 1865 Professor für römisches Recht an der Philipps-Universität Marburg. Mutter · Therese Ubbelohde geb. Unger (* Göttingen 10. 4. 1839, † Marburg 20. 3. 1916). Die Familie wohnt in der Elisabethstraße 9, unmittelbar neben der Elisabethkirche. 1875—1884 Ubbelohde besucht 1875 bis 1884 das Gymnasium Philippinum (Abitur). 1879—1884 Erste Skizzenbücher, die Ubbelohdes sich entwickelndes Zeichentalent dokumentieren. 17./18. 5. 1880 · erste zeichnerisch dokumentierte Lahntour. 28. 9. – 2. 10. 1881 · erste zeichnerisch dokumentierte Rheintour. 1884 24. 3. · Reifeprüfung am Gymnasium Philippinum Marburg. 21.4. · Auf Empfehlung seines Onkels, des Radierers, Reproduktionsstechers und Aquarellmalers William Unger (* Hannover 11. 9. 1837, † Innsbruck 5. 3. 1932) schreibt sich Ubbelohde mit der Matrikelnummer 5041 an der Akademie der bildenden Künste in München ein. Zuvor war er für wenige Tage an der Kunstakademie in Weimar. Sein erstes Münchener Domizil liegt in der Schommerstraße 6 in der Ludwigsvorstadt nahe dem Hauptbahnhof. Im Sommer (Juli/August) Aufenthalt in Marburg. Etwa 28. 9. bis Anfang Oktober weitere Rheintour. Biographie 1 Otto Ubbelohde als Studienanfänger in München. 1884.

333 1884—1890 Studium an der Münchener Akademie bei folgenden Lehrern: Gabriel von Hackl (1843–1926) · Antikenklasse, Naturklasse und Zeichenschule Karl Raupp (1837–1918) · Malerei, Naturklasse und Zeichenschule Ludwig Herterich (1856–1932) · Malerei, Maltechnik, Naturklasse, Aktzeichnen Ludwig von Löfftz (1845–1910) · Maltechnik, Malerei und Komponierklasse Wilhelm von Diez (1839–1907) · Maltechnik, Historienmalerei und Komponierklasse 1885 Ubbelohde wohnt zunächst in der Amalienstraße 54, zieht aber bald in die Barer Straße 65 um, beides im Künstler- und Akademieviertel Maxvorstadt. Von August bis Mitte Oktober hält er sich in Marburg auf. Dabei macht er offenbar eine Rhein-Tour. 1886 Um März/April · Reise nach Wien, erste Radierversuche unter Anleitung seines Onkels William Unger. Wohl zum Sommersemester Eintritt in die Herterichschule. Im August bis Mitte Oktober Aufenthalt in Marburg. 30. 8. – 3. 9. · Tour an der Lahn. Zieht in die Barerstraße 82/I um. 1887 Umzug in die Adalbertstraße 47/I. Im August bis Mitte Oktober Aufenthalt in Marburg. Wintersemester 1887/88 · Eintritt in die Löfftzschule. 1888 Im August bis Anfang Oktober Aufenthalt in Marburg. Wohl im Herbst Umzug zurück in die Barerstraße 82/I. 1889 Erneuter Umzug, diesmal in die Schnorrstraße 1/I. April (um 14. bis 24. 4.) und Ende Juli, evtl. bis Anfang August (um 27./28.7.) · Reisen nach Südtirol, wohl um Verwandte seiner Mutter zu besuchen. September/Oktober · Anfang September reist Ubbelohde mit seinen Eltern nach Langeoog, Mitte des Monats ist er in Bremen. Um diese Zeit fährt er zusammen mit seinem Freund Erich Otto Engel erstmals nach Worpswede, wo Otto Modersohn und Fritz Mackensen sich einige Monate zuvor niedergelassen haben und eine Künstlerkolonie gründen wollen. Auch sein Freund und Studienkollege Hans am Ende hält sich hier auf. Ubbelohde bleibt bis etwa Mitte Oktober. 1890—1899 Ubbelohde beendet sein Studium an der Akademie mit besonderer Auszeichnung als Portraitist und lässt sich als freier Künstler in München nieder. Er bleibt bis 1899 in München, fährt aber in dieser Zeit in den Sommermonaten regelmäßig nach Marburg. 1890 bis 1892 entstehen erste vollgültige Gemälde mit Motiven aus dem Marburger Umland. 1890/91 Absolviert seinen Militärdienst als Einjährig-Freiwilliger beim Hessischen Jägerbataillon Nr. 11 in Marburg. Die Kaserne stand im neuen Südviertel.

334 Wahrscheinlich nach seiner anschließenden Rückkehr nach München bezieht er eine Wohnung in der Schwanthalerstraße 33/III in der Ludwigsvorstadt. Hier wohnt er bis 1896 oder 1897. 1891 Ubbelohde wird Mitbegründer des »Vereins für Original-Radirung München« und beteiligt sich bis 1902 an fünf Jahresmappen des Vereins. 2 Otto Ubbelohde an der Staffelei. Dezember 1891. 1892 Juni bis September · Zusammen mit Bernhard Buttersack Studienfahrt an den Neckar (Wimpfen, Jagstfeld). Von hier aus auch ein Abstecher in die Schweiz zur Burg Hohenklingen im Baseler Land. Ubbelohde wird evtl. im Gründungsjahr, spätestens aber 1893 Mitglied der Münchener Secession. 1893 August bis Oktober · Zusammen mit Bernhard Buttersack Studienfahrt an den Bodensee, vor allem zum Hohentwiel bei Singen und auf die Insel Reichenau (Ruine Schopfeln). Heimliche Verlobung mit seiner Kusine Hanna Unger aus Bremen. Die beiden kannten sich von Kindheit an. Ubbelohde stellt 1893 bis 1898 mit der Secession aus. Er gibt zusammen mit seinem Freund und Lehrer Carl-Theodor Meyer-Basel die Radiermappe Marburg a. d. Lahn und Umgebung bei E. Stahl in München heraus. 1894 Ubbelohde wird Mitglied im Verein bildender Künstler, München. Mitte Juni bis Oktober · Mit Hermann Groeber und Ernst Thalheimer weiterer Aufenthalt in Worpswede. Scharfe Ablehnung seitens der dort ansässigen Künstler, insbesondere Modersohn und Mackensen. Während der Worpswede-Aufenthalte besucht er seine Verlobte Hanna in Bremen. Ubbelohde radiert sein erstes Exlibris.

335 1898 obliegt dem Bildhauer Joseph Floßmann (1862–1914), der wie Ubbelohde Mitglied der Münchner Secession ist. Erste Entwürfe von Wandschirmen mit den Motiven Eulenpaar, Bussarde im Kieferngeäst und Falke und Reiher. 30. September · Tod des Vaters. Die Erbschaft ermöglicht es wohl den Ubbelohdes, den Bau eines Hauses zu planen. 1899 Beginn der Suche nach einem Bauplatz für das Haus. Zunächst ziehen Ubbelohdes Wehrda in Betracht, später auch ein Forsthaus bei Sterzhausen. Die Entscheidung fällt auf Goßfelden, wo sie von Land- und Gastwirt Ruth (später Scheel’s Gasthof) ein Grundstück erwerben können. Mai bis Oktober · Erste Teilnahme an der Deutschen Kunstausstellung in Dresden mit dem Märchenfries für ein Kinderzimmer, ausgestellt in einem Kinderzimmer von Karl Bertsch. Bis 1912 mehrere weitere Teilnahmen. Im Juni Fahrt nach Südbayern und an den Bodensee. Beginnt sich mit der Illustration der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm zu beschäftigen. Beginnt seine Zusammenarbeit mit der Scherrebeker Kunstwebschule, für die er bis 1901, vielleicht bis 1902, mehrere Wandteppiche mit Märchen- und Tiermotiven entwirft. Entwirft zwei dreiteilige Wandschirme mit Tiermotiven des Jugendstils, von denen einer auf der Weltausstellung in Paris ausgestellt wird. Ubbelohde tritt der 1898 gegründeten »Freien Vereinigung Darmstädter Künstler« (FVDK) bei, entwirft deren Signet und nimmt erstmals an einer Ausstellung der FVDK teil. Bis 1911 vier weitere Teilnahmen. 1895 Juli bis Ende August · Mit Hermann Groeber und Ernst Thallmaier letzter Aufenthalt in Worpswede und endgültige Entzweiung mit den ansässigen Künstlern. Arbeit am Lautenständchen. Oktober · Besuche in Bremen und Hannover. 1896 Ubbelohde tritt in München der 1896 gegründeten, gemäßigten »LuitpoldGruppe« bei, deren Mitglied er bis zum Lebensende bleibt. Bis 1900 entstehen Illustrationen für die Zeitschriften PAN und Jugend. April bis Oktober oder April und Juni bis Oktober · Aufenthalt(e) in Hessen. 1897 Arbeit an einem Trachtentriptychon, das er aber wieder aufgibt. Arbeit an einem Pastelltriptychon zur Gänsemagd (Slg. Moritzburg, Halle). Mitbegründung der »Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk« in München. 2. November · Heirat mit Hanna Unger in Bremen. Das Paar zieht Ende 1897 oder Anfang 1898 nach München (Schwanthalerstraße 69/3). In Marburg erscheint bei Friedrich Sömmering Ubbelohdes erste Serie von Trachtenpostkarten. 1898 Ubbelohde entwirft Kratzputz-Dekorelemente für die Fassade der Volksschule in der Haimhauserstraße 23 in MünchenSchwabing von Theodor Fischer (1862– 1938). Die Ausführung der Frieselemente

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