29 bei der alle Bildelemente durch eine sie erfassende rhythmische Bewegung verbunden werden, das gewünschte, sicht- und spürbar zu machende Ziel. Eines der Symbole des Jugendstils ist das Fahrrad. Denn es steht für eine selbstbestimmte – zudem kraftvoll-rhythmisch auszuführende – Fortbewegungsart. Zudem wohnt dem Fahrrad ein hohes emanzipatorisches Potential inne.13 Deshalb sitzt der adrett gekleideten jungen Dame, die sich auf dem Cover der Jugend vom 28. Mai 1900 mit kessem Hüftschwung an ihr Fahrrad lehnt, ein geflügelter Amor auf der Schulter. Sein Köcher ist mit Liebespfeilen gut gefüllt, während er ihr zuredet und wertvolle Ratschläge erteilt, auf die sie zu hören scheint (Abb. 4).14 Die Erfindung des Fahrrads ging zwar schon auf den Anfang des 19. Jahrhunderts zurück, doch wurden der luftgefüllte Gummireifen sowie ein für Damen geeignetes Fahrrad ohne obere Rahmenstange erst Ende der 1880er Jahre entwickelt. Damit konnten sich Frauen bequem des Fahrrads bedienen und ihre Bewegungsfreiheit eigenständig erweitern, gleichberechtigt mit den Männern, und dabei – so suggeriert es das Titelblatt der Jugend – allerlei Abenteuer abseits elterlicher Aufsicht erleben. Das Radfahren als sportliche Freizeitbetätigung an der frischen Luft wurde integraler Bestandteil der Lebensreformbewegung, denn es half gesellschaftliche Zwänge und Konventionen, etwa in der Mode, abzuschütteln. Zudem erleichterte es breiteren bürgerlichen Schichten der Gesellschaft den Zugang zu einem intensiveren Landschafts- und Naturerlebnis. Auch Ubbelohde bediente sich des Fahrrads als erschwingliches, modernes Fortbewegungsmittel, mit dem sich der Bewegungsradius um seine neue Bleibe in Goßfelden ausweiten ließ. So konnte er in Tagestouren seine geliebten Motive im oberen Lahntal oder der Wetschaftsenke aufsuchen; im Winter wurden ersatzweise Skier dazu eingesetzt. Im bereits erwähnten Brief an den Schwiegervater vom 29. Dezember 1899 berichtet Ubbelohde von seinem Kauf eines ersten Fahrrads zwei Jahre zuvor und seinen Plänen, sich eine neue, bessere »Maschine« anzuschaffen.15 In der Jugend wurde unter anderem Ubbelohdes großformatiges Pastell-Triptychon des Grimm’schen Märchens Die Gänsemagd auf einer Doppelseite in Schwarz-Weiß abgedruckt – nur eine Nummer vor dem Wochenheft mit der Dame und ihrem Fahrrad auf dem Cover (Abb. 5).16 Das Triptychon war um 1898 entstanden und vom Städtischen Museum für Kunst und Kunstgewerbe in Halle (dem institutionellen Vorläufer des ab 1904 bestehenden Kunstmuseums Moritzburg) angekauft worden; dort befindet sich die Folge an Pastellen noch heute.17 Das Mittelbild zeigt die Königstochter, die – von ihrer eigenen Magd hintergangen – nun selbst die Gänse hüten muss. Als sie ihr gold-blondes Haar ordnen und flechten will, versucht Kurti, ein sie begleitender Gänsehüter, ihr einige Haare auszureißen. Doch kommt der Prinzessin eine Windböe zu Hilfe, die sie durch einen Zauberspruch auslöst, wodurch dem Jungen der Hut vom Haupt geweht wird und er nun seiner Kopf4 Bernhard Pankok TITELBILD in: Jugend. Münchner Illustrierte für Kunst und Leben 5, 1900, Bd. 1, H. 22, 28. Mai 1900, S. 363
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