Leseprobe

119 Märchen gelten als zeitlos. Sie werden in einem Reich angesiedelt, das von den historischen Ver- und Entwicklungen der Menschenwelt nicht berührt wird. Die frei schwebende Märchenzeit bildet einen Kontrast zur historischen Zeit, die bereits in der Welt der Brüder Grimm als maschinell getaktetes und sich laufend beschleunigendes Korsett wahrgenommen wurde.1 Ohne dass die Bedeutung von Märchen damit erschöpft wäre, bedienen sie auch die Sehnsucht nach einem einfachen und leicht durchschaubaren Weltbild, in dem die Welt noch in Ordnung schien, ohne die Brüche und Unübersichtlichkeiten der wirklichen Welt. Die Märchenwelt galt als volkstümlich, einfach strukturiert und meist idyllisch. Anspielungen auf das Mittelalter als verklärter Vergangenheit waren dabei gang und gäbe.2 Im Laufe des 19. Jahrhunderts und vor allem im Kaiserreich etablierten sich Märchen als Bestandteil des bürgerlichen Bildungskanons. Das national gesinnte deutsche Bürgertum belebte zahlreiche, von der Romantik geprägte Interessengebiete wieder, wozu das Mittelalter ebenso gehörte wie Märchen und Sagen. Im Kaiserreich wurden Grimmsche Märchen sogar als Schul- und Erziehungsstoff eingesetzt;3 auch Otto Ubbelohde dürfte als Schüler so mit ihnen in Berührung gekommen sein. Aber auch die zivilisationskritischen Lebensreformbewegungen bedienten sich der Märchen. Die Auseinandersetzung und Neulektüre von Märchen und Sagen passte zu einer Bewegung, die ein stadtfernes, Zur Modernität der Märchenillustrationen Ubbelohdes RAINER ZUCH ländlich-bäuerliches und natürliches Leben propagierte, Heimat- und Landschaftsschutz förderte und den Künsten, insbesondere der Buchkunst, sehr zugewandt war; alles Ideen, die auch in den konservativen bürgerlich-akademischen Milieus der Zeit großen Anklang fanden. Das Neben- und Miteinander von neuen und fortschrittlichen Vorstellungen, der Suche nach zivilisationsfreien Räumen und der mythischverklärenden, aber auch wissenschaftlich-lexikalischen Rekonstruktion einer mittelalterlichen Vergangenheit durchzieht als eine grundlegende Ambivalenz große Teile der Moderne.4 Auch die Märchenillustratoren, deren erster 1825 Ludwig Emil Grimm war und die maßgeblich zur Verbreitung der Grimmschen Märchen beitrugen,5 versetzten das Märchengeschehen in ein fantastisches Märchenland, in dem historische Zeit und Gegenwart nicht vorkommen. Märchen waren zu Ubbelohdes Zeiten also etwas ausgesprochen Aktuelles. Zugleich reihte sich der Künstler in eine fast hundertjährige Geschichte der Märchenillustration ein, der er mit seinen Illustrationen eine eigenwillige Wendung gab. Die Eigenständigkeit seiner Arbeit soll im Folgenden näher beleuchtet werden. Ubbelohde löst die Märchen aus dem vorherrschenden freischwebenden Märchenland heraus, in dem er sie mit dem sein Gesamtwerk bestimmenden, umfassenden Landschaftskonzept verbindet und sie mittels einer

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