Leseprobe

120 Verschmelzung von Zeitlosigkeit und Aktualität modernisiert. Dazu griff er eine Reihe zeitgenössischer Geistesströmungen und gesellschaftlicher Entwicklungen auf, die mit der Lebensreform, der er sich zeitlebens verpflichtet fühlte, zusammenhängen. Die Ideen der Lebensreform kreisen grundsätzlich um eine Neudefinition des Verhältnisses von Mensch und Natur.6 Für Ubbelohde schienen die Märchen ein besonders geeignetes Feld zu bilden, um seine Haltung zum Ausdruck zu bringen. In den Illustrationen vernetzte er regelrecht verschiedene lebensreformerische Ideen, was bei deren Heterogenität nicht ganz einfach zu bewerkstelligen war.7 Es ist geradezu paradox, dass er offenbar der einzige namhafte Illustrator blieb, der offen lebensreformerische Ideen in die Märchen eintrug; ein Umstand, der bisher übersehen wurde. Ubbelohdes künstlerische Auseinandersetzung mit Märchen und Sagen setzte in den späten 1890er Jahren ein und währte bis an sein Lebensende. Zwar war die Illustration der Kinder- und Hausmärchen nicht sein einziger Beitrag zum Märchenbild, jedoch stellen sie den mit Abstand bedeutendsten Teil dar.8 Darüber hinaus sind drei dem Jugendstil verpflichtete frühe Arbeiten hervorzuheben: der 20-teilige Märchenfries Die sieben Raben für ein von dem Architekten Karl Bertsch entworfenes Kinderzimmer von 1897/98,9 die Entwürfe für Märchenteppiche für die Kunstwebschule in Scherrebek10 und die Illustration der Puppenspiele von Johann Benda.11 Mit ihrer ausgeprägten flächig-geometrischen Dekorativität bilden sie einen deutlichen Kontrast zu den Illustrationen der Jubiläumsausgabe (Abb. 1, 2). Den Abschluss der Auseinandersetzung bildet der Radierzyklus Der Eisenhans von 1910.12 Mit der Illustration der Gesamtausgabe der Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm war Ubbelohde etwa zehn Jahre beschäftigt. Erste Entwürfe datieren auf 1899. Die Besonderheiten und die Schwierigkeiten, mit denen der Künstler zu kämpfen hatte, sind bekannt: Es war nicht nur sein einziges selbst gewähltes Illustrationsvorhaben, sondern mit 447 Illustrationen auch sein umfangreichstes; er musste eine kleine Odyssee durch das Verlagswesen durchstehen, bis er im Turm-Verlag in Leipzig einen geeigneten Partner für die Veröffentlichung 1907 bis 1909 fand. In einem Brief an seinen Cousin Heinrich Ubbelohde schrieb Ubbelohde 1921: »Als ich die ersten Zeichnungen machte, hat mich die wunderbare, oft mit drei, vier Worten bestrittene Landschaftsschilderung gereizt.«13 Für Ubbelohde bildet die Landschaft nicht bloß einen dekorativen Hintergrund des Märchengeschehens. Landschaft ist auch nicht einfach mit Natur gleichzusetzen. Sie ist immer schon wahrgenommene und gestaltete Natur, sie entsteht erst durch den menschlichen Zugriff. Der künstlerische Blick erschafft die Landschaft aus der außerkünstlerischen Natur heraus und hält sie im Bild fest. In fast allen zeitgenössischen Kunstströmungen, die sich mit der Landschaft beschäftigen, so im Symbolismus, Impressionismus,

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