122 entgegen, ist er doch – auch aufgrund des deutlich größeren Formats der Blätter – teilweise so dominant, dass die Figuren in ihm fast verschwinden (Abb. 5). Die Technik der Federzeichnung erlaubt dem Künstler ein vielfältiges Spiel mit Figur und (Hinter-) Grund. Oft heben sich die Figuren wie scherenschnittartige Leerformen von der Landschaft ab, als stünden sie nicht in ihr, sondern getrennt vor ihr (Abb. 6). An anderer Stelle reduziert Ubbelohde alle Bildgegenstände auf Umrisslinien, wodurch Figuren und Landschaft wieder eine Einheit eingehen. Gelegentlich wird der Hintergrund durch schwarze Flächen ersetzt, wodurch er sich aber als Hintergrund gleichsam auslöscht. Dadurch werden Figuren mit den Bäumen, vor bzw. zwischen denen sie agieren, zu einem gemeinsamen Vordergrund zusammengeschlossen (Abb. 4). Insgesamt werden die Märchenzeichnungen in ihrer Vielgestaltigkeit zu einem Kompendium der zeichnerischen Ausdrucksmöglichkeiten Ubbelohdes, welches er so geschickt einsetzt, dass dabei die Einheit der Gestaltung der Märchenbücher gewahrt bleibt. Schon aufgrund der enorm hohen Anzahl der Illustrationen wählte Ubbelohde seine Motive meist eigenständig, ohne auf Vorbilder zurückgreifen zu können. Dabei gestaltete er weniger dramatische Höhepunkte oder einprägsame Szenerien, sondern konzentrierte sich meist auf eher handlungsarme Teile. Viele Darstellungen malen eine Szene eher aus, als dass sie die Handlung hervorheben. Auch bei seinen seltenen Anknüpfungen an ikonographische Traditionen eignete er sich die Motive in charakteristischer Weise an. Nehmen wir etwa Hänsel und Gretel (Abb. 7). Die Kinder, mit stabilen Schuhen, warmer Kleidung und Wanderstock für eine Wanderung adäquat ausgerüstet, nähern sich einem oberhessischen Fachwerkhaus, bei dem die Lebkuchen nur auf einer Lade an der Hauswand stehen. Zwischen die Kinder und das Haus stellt Ubbelohde einen großen, hohlen Baum als Abstandhalter, der – mit zwei Raben im Geäst – die drohende Gefahr symbolisch andeutet. Das Szenario erscheint in einem durchaus realistischen, oberhessischen Gewand. Darin unterscheidet es sich markant von den Illustrationen des 19. Jahrhunderts wie etwa Ludwig Richter, die durchweg auf den Kontrast betont niedlicher Kinder zu der furchterregenden Hexe setzen (Abb. 8).18 Ubbelohde verweigert sich dieser »Kindertümlichkeit«,19 den berühmten Grimmschen Märchenton unterläuft er häufig. Seine Illustrationen machen deutlich, dass er die Märchen als Geschichten für Kinder und Erwachsene verstand, vor allem aber als eine künstlerische Herausforderung, die für ihn vor jeder Rezeption durch ein Publikum eine Bedeutung hatte. Er befreite aber nicht nur die Kinder aus ihrem Niedlichkeitsghetto. Auch vielen Frauengestalten verlieh er ein ganz ungewohntes Selbstbewusstsein. Sehr augenfällig ist dies bei einer seiner bekanntesten Illustrationen zu Frau Holle: Da ragt die gute Jungfrau, ein Kissen ausschüttelnd, monumental in den Wolken über
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1