Leseprobe

25 Vorspann: Selbst- und Fremd- stilisierung »Pegasus, Prachtbiest, spürst du den Sporn?«1 So hebt das »Epos« an, das Otto Ubbelohde aus der Kunstmetropole München an seinen Schwiegervater Richard Unger, den Direktor der Bremer Weserwerft, zum Jahreswechsel 1899 schreibt. Fabulierfreudig setzt sich der Maler mit dem mythischen Helden Bellerophon gleich, dem es gelang, mit Hilfe von Pallas Athene – der Göttin der Weisheit und Kriegsführung – das geflügelte Ross zu bändigen und, auf diesem reitend, die feuerspeiende Chimäre zu erlegen. Selbst wenn das »Epos« nicht über die zweite Strophe hinauskommt, wie Ubbelohde unumwunden eingesteht, deutet der Sohn eines Marburger Jura-Professors und Absolvent des Gymnasium Philippinum bereits mit diesem Vers seine humanistische Bildung an. Zudem aber sind ein mitreißendes Stürmen und Drängen spürbar, der Wille, den eigenen Genius zu beflügeln. Dieses Spannungsverhältnis zwischen traditionsgesättigter, bürgerlich-akademischer Bildung als beanspruchtem Ideal bei gleichzeitigem Bedürfnis nach absoluter schöpferischer Freiheit wird mit der Jahrhundertwende konstitutiv für Ubbelohdes Handeln. Es findet in dem vom Künstler gestalteten Signet der Freien Vereinigung Darmstädter Künstler, der er 1899 beitritt, seinen prägnanten bildlichen Ausdruck: Ein nackter junger Mann richtet sich auf seinem kraftvoll schreitenden Pferd auf und wendet den Blick zurück nach hinten – Aufbruch als Rückkehr zu einer als ursprünglich verstandenen Natürlichkeit mit dem antikischen männlichen Akt als noch immer gültiger kanonischer Bezugsgröße (Abb. 1).2 Ubbelohdes Wunsch nach einer sowohl künstlerischen als auch lebenspraktischen ›Umkehr‹ offenbart sich noch deutlicher in seinem bereits 1899 gefassten und im Frühjahr 1900 vollzogenen Entschluss, aus der Kunstmetropole München nach Marburg zurückzukehren, um sich in Goßfelden im oberen Lahntal in einem schlichten, selbstgeplanten Atelierhaus niederzulassen. In der bayerischen Hauptstadt hatte Ubbelohde 1884 sein Studium an der Akademie aufgenommen und seit 1890 als freier Künstler gearbeitet. 1892 hatte er zu den Gründungsmitgliedern der Münchener Secession gehört, die sich von der dortigen Künstlergenossenschaft losgesagt hatte; allerdings war er bereits 1896 zur gemäßigten Luitpold-Gruppe übergewechselt. Wiederholte Studienaufenthalte Mitte der 1890er Jahre in Worpswede bei Bremen führten nicht zum gewünschten Erfolg, denn es gelang ihm nicht, in der dortigen Künstlerkolonie Fuß zu fassen. So blieb München zunächst der Lebensmittelpunkt. Der dortigen Jugendstilbewegung war Ubbelohde doppelt verbunden: als einer der frühen Illustratoren der Wochenzeitschrift Jugend, die seit 1896 in der Isarmetropole erschien, sowie als Mitbegründer der 1897 dort geschaffenen Vereinigten Werkstätten für Kunst im Entwicklungen der Kunst 1890–1920 OTTO UBBELOHDES ORIENTIERUNGEN UND DIE INTERPRETATIONSSPIELRÄUME DER KUNSTGESCHICHTE HENDRIK ZIEGLER

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