26 Handwerk. Mit der Jahrhundertwende bot sich nun Otto Ubbelohde und seiner Frau Hanna – beide hatten 1897 geheiratet – die Gelegenheit, gemäß den Idealen der Lebensreformbewegung ein weitgehend autarkes, selbstbestimmtes, produktives Dasein, das es entsprechend ästhetisch zu überhöhen und zu stilisieren galt, als Selbstexperiment zu leben. Die Erbschaft nach dem Tod des Vaters im Herbst 1898 bot die ökonomische Grundlage: Für das tägliche Arbeiten in unmittelbarer Anschauung des landschaftlichen Motivs – en plein air – wurde das quirlige Kunstleben der Prinzregentenzeit gegen die ›Ein-Mann-Künstlerkolonie‹ in den Lahnauen bei Marburg eingetauscht. Damit beginnt jene Selbst- und Fremdstilisierung als zurückgezogen lebender, nur aus sich selbst schöpfender, weitgehend verkannter, doch gerade deswegen besonders »deutscher« Künstler – ein Image, das vielfältig bedient und gespeist wurde, nicht zuletzt aus den seit der Jahrhundertwende sich mehrenden Pressestimmen und ersten monographischen Würdigungen. Bereits 1904 schreibt Karl Schaefer, der damals noch Assistent des Museumsdirektors am Bremer Gewerbemuseum war und ab 1911 das Museum für Kunst und Kulturgeschichte der Hansestadt Lübeck aufbauen sollte, in der angesehenen Wiener Vierteljahresschrift Die graphischen Künste: »Nach allerhand Streifzügen in den Tälern seiner hessischen Heimat ließ er sich [Ubbelohde] dann in dem nahe bei Marburg gelegenen Goßfelden nieder, um für sich allein ein Worpswede nach seiner Neigung zu haben.«3 Ganz ähnlich äußerst sich 1906 Christian Rauch, der gerade als Kunsthistoriker an der Universität Gießen zu lehren begann und Ubbelohde seit 1905 zur Konzeption und Mitarbeit an dem ab 1906 erscheinenden, reichlich bebilderten Jahreskalender Hessen Kunst eingeladen hatte. In der Würdigung seines künstlerischen Mitarbeiters im ersten Jahresheft heißt es unter anderem: »Aber er ist Deutscher und der Erbe alter geistiger Kultur, die noch immer im deutschen Professor ihre Krone hat. [...] Ubbelohde war 1894/95 auch in Worpswede; aber es hielt ihn dort nicht. Es waren ihm trotz der wenigen noch zu viele. Er baute sich auf der Heimaterde in Goßfelden nahe bei Marburg ein eigenes Haus in großzügiger, oft von schweren Luftstimmungen beherrschter und dann merkwürdig niederdeutsch anmutender Landschaft: Stille Gehöfte, die Lahn und viele hochstämmige Pappeln. – Sein Haus mit den einfachsten Mitteln errichtet und ausgestattet trägt bis ins Kleinste den Stempel seines Wesens. Der Grundzug ist groß, und dekorativ; und doch fehlt die Freude am kleinen Subtilen nicht, wieder den beiden Seiten seiner Künstlerindividualität entsprechend. – Ubbelohde hat noch viel zu geben, denn er beherzigt, was alle Großen dem Strebenden raten: Werde Du!«4 Der hier von Rauch bereits Anfang des Jahrhunderts angeschlagene pathetische Tonfall ist zwar durchaus zeittypisch; jedoch bildet er die Vorstufe zu einer später noch zunehmenden und während des Ersten Weltkriegs ihren ersten Kulminationspunkt erreichen1 SIGNET DER FREIEN VEREINIGUNG DARMSTÄDTER KÜNSTLER 1898/99, Zeichnung, 8,3 × 9,2 cm, OUS
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