Leseprobe

71 Durch gemeinsame weltanschauliche und künstlerische Interessen entwickelte sich eine enge Freundschaft zwischen Erna Lincke und mir. Wir wollten während der Semesterferien die See kennenlernen, und da wir beide wenig Geld hatten, musste dies zu Fuß geschehen. Ich zog mit dem Lineal einen Strich auf den Messtischblättern von Magdeburg bis Bremen, der unsere Marschroute ergab. Bis Magdeburg fuhren wir mit dem Bummelzug. Im Rucksack waren außer dem Schlafsack Lebensmittel, Stifte und Aquarellblock und obenauf der Kochtopf. Gemüse, Kartoffeln und Brot konnten wir bei den Bauern kaufen. Geschlafen wurde in Scheunen, einmal sogar beim Bürgermeister im Kittchen, der uns allerdings frisches Stroh zur Verfügung stellte. Von Magdeburg ging es planmäßig über Helmstedt, quer durch die Lüneburger Heide mit den strohgedeckten, zwischen hohen Laubbäumen versteckten Einheitsbauernhäusern aus Ziegelfachwerk. Streckenweise wanderten wir entlang der Aller oder durch Moore über Fallingbostel und Verden nach Bremen. Nach einem Ruhetag erreichten wir über Worpswede, in dem von der einstmaligen weltbekannten Künstlerkolonie nichts mehr zu spüren war, Bremerhaven. Hier sahen wir zum ersten Mal Überseedampfer am Kai liegen. Da wir gern einen solchen »Kahn« auch auf Deck und im Inneren gesehen hätten, trugen wir unseren Wunsch einigen Kapitänen oder Offizieren deutscher Schiffe vor. Nach abschlägigen Bescheiden hatten wir Glück bei einem Engländer. Wir sollten nur den Maschinenraum nicht betreten und keine Angst vor den Chinesen an Bord haben. Bei unserer eingehenden Besichtigung kamen wir auch in das Zwischendeck. In dem niedrigen dunstigen Raum wimmelte es von Chinesen, die an langen Holztischen aßen. Wir wurden gleich zum Reis eingeladen, aber irgendwie war uns in der ostasiatischen Atmosphäre etwas unheimlich. Wir wanderten auf dem Deich weiter, sahen die sich trichterförmig erweiternde Wassermündung mit den ein- und ausfahrenden Schiffen und hörten das unaufhörliche Brausen der Brandung. Hier gab es kein Brot, auch die Bauern hatten für sich selbst keins. Wir lebten mehrere Tage lang von Eiern und Zucker. Kurz vor Cuxhaven, von dem Ort Duhnen aus, sieht man etwa 10 km entfernt im Meer eine kleine Insel.77 Natürlich durch die Erdkrümmung bedingt nur die obere Hälfte der Bäume und des von Störtebecker im 15. Jahrhundert erbauten Turms, der heute als Leuchtturm vor der Elbemündung dient. NORDSEE

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