72 Während der Ebbe ist die Insel zu Fuß erreichbar. Die Einwohner wussten, wann die Zeit günstig zum Aufbruch war, und bei klarem und beständigem Wetter gingen wir, den Rucksack auf dem Rücken und die Sandalen in der Hand, ins Wattenmeer. Zuerst war der Boden schlammig, dann wurde er fest, aber sehr höckerig. Schon weit draußen erreichten wir den ersten Priel, eine nicht austrocknende Abflussrinne der Elbe. Sie war am Rande steil ins Watt eingeschnitten. Ich versuchte, der Grund lag etwa knietief. Da Erna kleiner ist, ging ihr das Wasser bis an die Oberschenkel. Aber die etwa 50 m breite Strecke wurde bewältigt und auch der zweite Priel durchwatet. Dann ging es über für die Füße unangenehm schneidende Muschelbänke, bis wir endlich den Inselboden erreichten. Wir umwanderten die Insel in etwa einer dreiviertel Stunde auf dem Deich, hinter dem einige kleine Gehöfte lagen. Im Leuchtturm war eine Jugendherberge vorhanden. Außer uns war aber niemand da, und wir konnten uns bis in die Nacht oben mit dem Leuchtturmwärter unterhalten. Er wusste uns viel Interessantes zu erzählen. Unter anderem auch von mehreren meist einheimischen Menschen, die durch plötzlich einsetzenden Nebel die Richtung verloren und in der Elbmündung ertranken. Am nächsten Tag traten wir den Rückmarsch durchs Watt an und erreichten dann, zwischen Marsch und Geest wandernd, über Ottendorf und Stade Hamburg. Der Hafen hatte etwas wirklich Faszinierendes für uns. Wir saßen oft lange an den Landungsbrücken von Sankt Pauli, um die großen Ozeandampfer zu betrachten und dem Gewimmel der kleinen Hafendampfer in dem ewigen Gewoge des Wassers zuzusehen. Der Blick vom »Michel« über den Hafen und die Elbe war für uns überwältigend, nicht nur weil gerade die Sonne über der Unterelbe unterging. Wir besuchten natürlich Lohse, der nun wieder bei seiner Mutter wohnte. Er machte einen gedrückteren Eindruck als in Bischofswerda. Leider war Lohse unter die Bibelforscher geraten.78 Wir sahen uns am nächsten Tage gemeinsam die Stadt an, und wo er es, wie auf dem Fischmarkt, für angebracht hielt, schnackte er mit den Menschen platt. Zwei neue Bilder gefielen mir sehr, besaßen aber nicht mehr die optimistische Gelockertheit wie die früheren Arbeiten. Es waren ein Großstadtbild und zwei Freunde in der Bahn. Auf der Rückfahrt nach Dresden hielten wir uns einen Tag in Berlin auf, das ich noch nicht kannte. Erna Lincke hatte hier früher eine Dekorationsschule79 besucht.
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