Leseprobe

73 Die Verbindung mit Bischofswerda blieb auch erhalten, nachdem Lohse weg war. Erna Lincke wurde auch freundschaftlich aufgenommen. Im Atelier hatte Rose viele Bücher, die mich interessierten. Da waren vor allem einige Jahrgänge des »Kunstblatts«80 mit Abbildungen von Werken meist expressionistischer Künstler, die ich bisher noch nicht kannte. Die gesammelten Briefe mit Zeichnungen von van Gogh fanden mein Interesse ebenso wie die Sprüche und Epigramme von Christian Morgenstern voll von Verspottung des bürgerlichen Philistertums. Unter den Arbeiten von Lohse fand ich eine Anzahl Porträts, die meines Erachtens nicht in der Ausstellung bei Richter hingen. Ich musste feststellen, nachdem ich viele Bischofswerdaer kennen gelernt hatte, wie ähnlich Lohse diese Menschen trotz stärkster farbiger und formaler Umsetzung und Abstrahierung gemalt hatte. Dasselbe gilt von einigen meist überlebensgroßen Plastiken und Selbstporträts. Überraschend erschien Lohse vor meiner Tür in Dresden. Angeblich wollte er sich hier nach Arbeit umsehen. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass er Hanna Scheumann wiedersehen wollte. Zwischen ihnen hatte sich in Bischofswerda ein sehr inniges Verhältnis angebahnt. Da dies ihren Eltern und Hebenstreits nicht unverborgen blieb, musste auch darum Lohse so schnell von Bischofswerda Abschied nehmen. Ein nur wenig bekannter Maler wäre ja für eine Heirat nicht standesgemäß gewesen. Nun wohnte er längere Zeit bei mir, d. h. bei meiner Mutter. Wöchentlich kamen die beiden »Mädchen« aus Bischofswerda zu Besuch. Leider hatte sich sein Bibelforscherfanatismus verstärkt. Er besuchte alle Menschen, die er hier kannte, um sie zu bekehren. Auch hatte er aufgehört zu malen, da Malen Sünde sei, und wollte auch mich davon abhalten. Nach Hamburg zurückgekehrt, verdiente er seinen Lebensunterhalt als Straßenbahnschaffner. 78 Aus der im späten 19. Jahrhundert gegründeten Vereinigung Ernster Bibelforscher, der deutschen Mitglieder der Internationalen Bibelforscher-Vereinigung (IBV), gingen 1931 u.a. Zeugen Jehovas hervor. 79 Erna Lincke besuchte 1916/17 die Lewinsohnsche Schule für Schaufensterdekoration, eine Privatschule in Berlin SW 19, Leipziger Str. 86. Der Gründer und Leiter verfasste im Eigenverlag u. a. das Lehrbuch: Leopold Levinsohn: Prachtwerk deutscher Schaufenster – Dekoration, Berlin 1925. 80 Das von Paul Westheim herausgegebene Kunstblatt erschien ab 1917 in Weimar und ab 1918–1933 in Potsdam. Es war eine der führenden Zeitschriften zur zeitgenössischen Kunst in Deutschland.

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