Leseprobe

36 nur für den Anfänger entfalten sie ihre erschreckende Wirkung, die Ordensmitglieder sind nach der zweiten Vorstellung bereits abgestumpft. Was aber macht den Horror so attraktiv, dass er in den verschiedenen Genres und Medien zum kulturellen Leben mit dazugehört? Generell funktioniert das Erschrecken mittels einer unscharfen Trennung von Realität und künstlerischer Darstellung; doch noch besser funktioniert es, wenn die Grenzlinie dabei gänzlich unsichtbar wird, der reale Horror für die Betrachtenden zum Greifen nah scheint. Realität und Fiktion können dabei ineinander gehen: Die Antike konstruierte mit den offenen Theatern und Arenen Bühnen, auf denen alles, was dort geschah, für die Zuschauenden zum Schauspiel wurde – selbst wenn es sich vor ihren Augen um reale, blutige, oft tödlich endende Überlebenskämpfe von Menschen (und Tieren) handelte. Das Drama scheint selbst in den grauenvollsten Szenen ein zwar bewegendes, aber fernes Drama zu bleiben, wenn nur unsere Stellung als »Zuschauende« definiert ist. Das gilt nicht nur für das Internet, sondern auch für die Welt der gemalten Bilder, vor denen die Betrachtenden stehen. Und es gilt ebenso für die Welt der auf Texten beruhenden Illustrationen, wobei diese Bilder nicht minder tief die eigene Psyche beeinflussen können als die von den Entwerfenden frei erfundenen Wesen. Die geschilderten Bestien, Monster und künstlichen Wesen nagen sich geradezu in die Psyche (Abb. 2). Kämpfe Schockierend ist ebenso das Aufzeigen des Unmenschlichen im Menschen, sein Ringen mit inneren Bestien und dem Bösen. Schockierend kann auch sein Kampf mit dem Tod sein. Der Tod liegt der Realität statistisch gesehen sowieso näher als die Begegnung mit Ungeheuern der Urzeit oder Aliens aus fernen Galaxien. Die Kunst- und Kulturgeschichte hat aber noch Bildwelten parat, die vom Horror in früheren Zeiten berichten. Sie können zudem mit Helden und Antihelden aufwarten, die in einer Welt agieren, von der wir nicht durch eine Lesebrille oder eine Zuschauerlinie getrennt sind: Diese Welt existiert in uns selbst. Dabei geht es, historisch gesehen, anfangs noch nicht um das Ich, um Psychoanalyse, sondern um die Seelenzustände und kollektiven Ängste einer Gesellschaft. Wie aber die subjektive Er2 Franz Nadorp Nedhögr, der Menschenwürger Feder/Tusche, Pinsel/Sepia und Deckweiß auf braungrauem Papier, 1833, 19,2 × 27,2 cm, Museum Georg Schäfer, Schweinfurt

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