Leseprobe

37 fahrung vom gemeinsamen kultischen Angsterlebnis trennen? Hier ist ein Blick zurück in die Bildgeschichte hilfreich. Dieser Rückblick versteht sich folglich nicht als Einführung in die Traumata der Moderne oder in die neue, am Beginn stehende Kunstepoche einer Algorithmusmatrix der KI (Künstliche Intelligenz). Er will nur kurz und exemplarisch zurück in Zeiten führen, in denen Horror und Liebe, Tugend und Sünde, Erschrecken und Staunen, Fühlen und Sterben etwas prägten, was nicht gespielt, sondern für immer real war: das Leben. Beginnen wir mit dem inneren Kampf. Er ließ sich kaum vermeiden. Im Leben jedes früheren Menschen kam es zu dieser Auseinandersetzung. Dass dies ein hoher römischer Beamter formulierte, dem sein bisheriges Leben als Provinzgouverneur unter Kaiser Theodosius unwichtig erschien und der sich stattdessen dem Glauben zuwandte, mag überraschen. Aurelius Prudentius Clemens (ca. 348 – um 405 n. Chr.) verfasste um 400 keinen Heldenbericht zu Schlachten oder zu Gladiatorenkämpfen in Amphitheatern. Vielmehr schilderte er in der Psychomachia einen länger andauernden Kampf, wobei er offenlässt, ob es ein Kampf der Seele, ein Kampf in der Seele oder um die Seele ist.1 Diese Schrift avancierte ab dem 10. Jahrhundert zum Schulbuch und wurde tausendfach gelesen. Worum geht es: Geschildert wird der Kampf der Tugenden mit den ihnen jeweils entgegengesetzten Lastern. Wer auflacht, das könne ja so dramatisch nicht gewesen sein, der spürt den Affekt, die Angstwirkung, nicht mehr. Sie beruhte auch auf den Illustrationen seiner Texte. In einem bebilderten Manuskript des 12. Jahrhunderts wird nun gleich eine weibliche Tugendverteidigerin im Kettenhemd den Körper der fackelschwingenden Personifikation der Unzucht durchbohren (Abb. 3). Doch der bildliche Horror existierte im Mittelalter nicht nur im »Daumenkino« der Codices, er schockierte auch in größerem Format. Ob an den Chorwänden der Kirchen, ob kleinformatig auf Pergament gemalt oder auf Papier gedruckt: Die Psychomachia stellte jahrhundertelang eine für die Gläubigen überaus wichtige Frage, nämlich die nach den richtigen Entscheidungen im Leben. Und zwar vor allem dann, wenn das private moralische Verhalten gegen den Kodex einer Gruppe, gegen ihren Tugendkanon verstieß. Das Dasein wurde dabei in der christlichen Gemeinschaft als immerwährende ethische Prüfung verstanden; überwogen die Sünden, dann war die sofortige Abschreckung das Eine, die nachfolgende ewige Strafe das Andere. Das Prinzip der psychologischen Abschreckung setzte als Protagonisten Tod und Teufel ein.2 Während die Seelen nach der damaligen Vorstellung gleich nach dem Tod ins Fegefeuer wechselten, kam das Weltgericht erst nach der Auferstehung des Leibes/der Toten am Jüngsten Tag. Das Itinerar des Jenseits umfasste mehrere Gerichtstermine.3 Doch die Teufel zerrten viele Menschen auch wegen recht kleiner Sünden direkt hinein in die Vorhölle. Der Dichter Dante Alighieri (1265–1321) beschrieb das bei seinem Gang durch die unterschiedlichen Höllenkreise im Buch der Göttlichen Komödie. Dort sah er die Strafen für die Todsünden der Törichten, Hochmütigen, Neidischen, Jähzornigen, Geizigen und Unzüchtigen, die mitunter auch noch dem Laster luxuriöser Völlerei frönten. Heute unbegreiflich: Man sah in der Hölle aber auch Verliebte, die sich wie Francesca und Paolo den Gesellschaftsregeln zur Ehe entzogen hatten, und man traf auf die Selbstmörder, ohne dabei ihre Tat, ihre Verzweiflung, zu hinterfragen (vgl. unten Abb. 10). Bis ins 19. Jahrhundert hinein wurden in allen verfügbaren Medien Bilder geschaffen, die der Illustration von Tugenden, Sünden und Lastern dienten – mit pädagogischem Auftrag. Im 20. Jahrhundert wurden manche dieser Darstellungen dagegen bereits als »unterhaltend« und »amüsant« sowie als Sittenspiegel und Karikaturen eingestuft.4 3 Nach Prudentius Psychomachia, (Kampf der Geister) bemaltes Manuskript, um 1120, British Library, London

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