Leseprobe

48 niert, die all diejenigen ausgrenzt, die sich als anders wahrnehmen – ein Gefühl, das sich auf verschiedenste Weise intersektional deuten lässt. Als »Mutter Monster« schafft Lady Gaga eine Gemeinschaft von Außenseiter:innen und Außenseitern unter einer Horde von Fans, die sie liebevoll »Kleine Monster« nennt.3 Die Ironie liegt hier selbstverständlich darin, dass Lady Gaga selbst keinesfalls eine Außenseiterin ist. Die Sängerin zählt zu den größten Stars des 21. Jahrhunderts, Born This Way wurde in 25 Ländern zu einem Nummer-eins-Hit, der sich über acht Millionen Mal verkaufte und damit zu einer der meistverkauften Singles weltweit gehört. Wir alle, so scheint es, sind jetzt Monster. In diesem Widerspruch liegt eine der fundamentalen Paradoxien des zeitgenössischen Horrors. In der zweiten Hälfte des 20. und bis in das 21. Jahrhundert hinein wurde Horror als Motiv zunehmend als Form des Widerstands gegen hegemoniale Normen konstruiert, sei es in Form von Fan-Kulten, fiktionaler Erforschung kultureller Krisen oder in Stilen der Subkultur. Wie der Tod im Tarot, der auf paradoxe Weise für das Ende und den Neuanfang zugleich steht, steckt auch im Horror eine potenziell revolutionäre Kraft. Horrorbilder lösen körperliche Reaktionen des Schocks, der Abscheu oder der Angst aus und laden uns auf diese Weise ein, unsere Einstellung zu dem, was wir kennen, zu überdenken. Ästhetiken des Horrors machen fluide Körperbilder sichtbar; sie zeigen solche, die kaputt und im Verfall begriffen sind und solche, die der Welt offen gegenüberstehen. Schaurige Körperdarstellungen sind konfrontativ und fordern uns auf, unser Verhältnis von Innen und Außen neu wahrzunehmen und auch unsere Umwelt zu hinterfragen. Horror gibt uns Rückhalt dabei, dem sauberen, perfekten, erstrebenswerten Körper, der gern mit dem westlichen Kapitalismus assoziiert wird, andere Daseinsformen und Körperbilder entgegenzusetzen. So wird Horror auch zum Instrument für die Kritik von Feminist:innen, BIPoCs, queeren Personen, Menschen mit Behinderung oder umweltpolitischen Aktivist:innen. Gleichzeitig jedoch verhält sich der Horror aufgrund seiner inhärenten Bedrohlichkeit, Unberechenbarkeit und seiner Fähigkeit, Monster auftauchen und verschwinden zu lassen, wenn man am wenigsten damit rechnet, nicht immer gemäß unseren Erwartungen. Horror kann für progressive ebenso wie für konservative Interessen in Anspruch genommen werden; auf den globalen Märkten des 21. Jahrhunderts scheint er den Bedürfnissen des neoliberalen Kapitalismus ebenso zu dienen wie seinen Gegner:innen. Diese Spannung zwischen Kommerzialisierung und Widerstand ist eines der markantesten Merkmale des Horrors im 21. Jahrhundert, was besonders an Massenmedien wie Film, Popmusik und Mode sichtbar wird, wie das folgende Kapitel zeigen soll. 2 Jennifer Kent The Babadook Filmplakat, 2014

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