Leseprobe

50 nierung des Monsters als abtrünniger Engel, der wahlweise zur Identifikationsfigur für die Lesenden oder Zuschauenden wird, könnte nicht deutlicher ausfallen. Ähnliche Motive des Horrors finden sich auch im 21. Jahrhundert und werden auf immer raffiniertere Weise erforscht. Im Zuge der Globalisierung werden dabei vermeintlich ethische Lebensweisen zunehmend infrage gestellt. So erleben Adam und Eve (Tom Hiddleston und Tilda Swinton) Vampirismus in Jim Jarmuschs Only Lovers Left Alive von 2013 als eine Art ewige Auszeit, in der sie entweder um die Welt reisen (Eve) oder im abgedunkelten Schlafzimmer liegen und Musik hören (Adam) (S. 133). Die Vampire überleben durch illegale Einkäufe bei oder Diebstahl von Blutbanken und ernähren sich nicht, wie traditionell üblich, direkt vom Menschen. Die Klimax des Films ist erreicht, als die beiden, gestrandet im marokkanischen Tanger und einer Blutquelle beraubt, entscheiden müssen, ob sie ein junges Menschenpaar erbeuten und so auf Kosten anderer überleben. Wenngleich das Publikum filmisch dazu verleitet wird, diese Szene als eine Hommage an die Liebe und das Leben zu lesen, so steht diese auch symbolisch für die westliche Ausbeutung des Globalen Südens, die traditionell koloniale Machtstrukturen affirmiert. Einen anderen Ansatz verfolgt der im Iran spielende Film A Girl Walks Home Alone at Night (2014) der Regisseurin Ana Lily Amirpour, der die klassische Erwartungshaltung an einen Horrorfilm ironisch bricht, indem die Tschador tragende Protagonistin in ihrer Rolle als Vampir das im Titel suggerierte Klischee von der Frau als Opfer widerlegt (Abb. 3). Jarmuschs und Amirpours Filme verdeutlichen den globalen Charakter des Horrorfilms im 21. Jahrhundert: Bei beiden handelt es sich um internationale Co-Produktionen, die ohne den Austausch von Ideen, Talenten, Finanzierung und Ressourcen über Kulturen und Kontinente hinweg nicht existieren würden. Wie Glennis Byron in Globalgothic schreibt, überwindet die Globalisierung des Horrorfilms die koloniale Tradition, westliche kulturelle Normen in den globalen Süden zu exportieren, und lebt stattdessen von einem Austausch in verschiedene Richtungen.8 So schafft es ein japanischer Horrorfilm wie Hideo Nakatas Ring – das Original (1998), westliche Techniken des Horrorfilms mit der japanischen folkloristischen Tradition des »onryō« (zorniger weiblicher Geist) sowie speziellen kulturellen Anliegen des »hikikomori«, einer Form des extremen sozialen Rückzugs im modernen Japan, und den Motiven einer globalen Angst vor neuen Technologien zu verbinden. Nachdem der Film internationalen Erfolg feierte, wurde er 2002 in Hollywood von Gore Verbinski unter dem Titel The Ring neu aufgelegt. Dies zeugt von einem Prozess des Austauschs, bei dem der nichtwestliche Horror neu angeeignet, absorbiert und wieder exportiert wird. Das amerikanische Remake war an den Kinokassen sogar erfolgreicher als das Original. Die im Film suggerierte, unmittelbare Gefahr für das Publikum durch den abstoßenden, kriechenden Körper der ermordeten Sadako, der den Fernsehbildschirm vermeintlich zu durchdringen vermag, deutet auf unheimliche Weise auf die Grenzen überwindende Übertragung des Horrors hin. 3 Ana Lily Amirpour A Girl Walks Home Alone at Night Filmplakat, 2014

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