Leseprobe

51 Volksteufel und Satansschuhe Es ist kein Zufall, dass in westlichen Kulturen freundliche Monster und Subkulturen zur gleichen Zeit entstanden. Ab den 1950er-Jahren erlebten Horrorfilme und Comics einen ähnlich großen Hype, und die Ablehnung, die sogenannte Schundliteratur und -filme bei der Elterngeneration sowie beim Establishment erzeugten, verlieh beiden Phänomenen eine gewisse Coolness. Als der utopische Traum in den 1960er-Jahren zu platzen drohte, rollte eine Welle von Jugendkulturen heran, die Horrorbilder in verschiedener Weise aufnahmen und sich damit selbstbewusst von den Lebensstilen und den Werten des Mainstreams absetzten. Diese Subkulturen galten in den Medien hinlänglich als »Volksteufel« – ein Begriff, der von Stanley Cohen geprägt wurde und als Bezeichnung diente für Menschen, die in modernen Gesellschaften zu Träger:innen gesellschaftlicher Ängste mutierten, während die von ihnen ausgehende Gefahr über alle Maßen übertrieben dargestellt wurde.9 Zwar befasste sich Cohen in seinen Schriften von 1970 speziell mit den Auseinandersetzungen zwischen Mods und Rocker:innen auf den Straßen Großbritanniens, doch seine Begriffe lassen sich problemlos auch auf die zu diesem Zeitpunkt gerade erst entstehenden Subkulturen wie Heavy Metal, Punk oder Goth übertragen. Diese größtenteils aus der Weißen Arbeiter:innenklasse und der unteren Mittelschicht des postindustriellen Großbritanniens hervorgegangenen Gegenkulturen verbreiteten sich rasch in Europa und den USA und eigneten sich die Motive des Andersseins und der Monstrosität an, um ihrer Entfremdung vom Mainstream Ausdruck zu verleihen. Sie machten sich damit das zu eigen, was in Kristevas Worten »die Identität, das System, die Ordnung stört […] und keine Grenzen, Positionen, Regeln achtet«.10 Die Ikonografie von Tod und Teufel bringt in diesem Zusammenhang etwas zum Ausdruck, das über die buchstäbliche Bedeutung dieser Worte hinausging: Widerspruch, Widerstand, Verweigerung. Die Subkulturen der 1970er-Jahre werfen noch heute einen Schlagschatten auf die Jugendkultur des 21. Jahrhunderts. Vor allem Heavy Metal und Goth weisen nach wie vor eine international florierende Szene auf, die durch die globale Vernetzung mit dem World Wide Web noch begünstigt wurde. Viele der populärsten Bands der 1970er- und 1980erJahre sind immer noch auf Tournee und produzieren Platten. Eine neue Welle von Künstler:innen macht jedoch Musik, die verschiedene Genres miteinander verbindet, um etwas Anderes zu schaffen, das die zunehmende Vielfalt der globalen Kultur des 21. Jahrhunderts widerspiegelt. Alien Weaponrys Kai Tangata (2018) beispielsweise bedient sich in seiner Musik der Māori-Symbolik. Bloodywoods Debütalbum Rakshak (»Beschützer:in«), von einem Bandmitglied als »Metal mit Masala« beschrieben, verbindet Hindi und Englisch sowie westlichen Metal und indische Volksmusik.11 In ähnlicher Weise verschmelzen Künstler:innen wie Zola Jesus, Chelsea Wolfe und Myrkur Folk, Elektronik, Chor- und Orchestermusik mit Metal, um eindringliche, sphärische Klangwelten zu schaffen und damit das traditionell stark testosterongesteuerte Genre von innen heraus zu unterwandern. Trotz der Neuerungen von Künstler:innen des 21. Jahrhunderts jedoch werden Metal und Gothic noch immer weitestgehend von Weißen Musiker:innen geprägt. In ihrem literarischen Hybrid aus Memoiren und Kulturkritik mit dem Titel Darkly (2019) beschreibt die Schriftstellerin Leyla Taylor ihr Aufwachsen als Schwarze Goth-Anhängerin im mittleren Westen der USA als doppelte Isolation und als Notwendigkeit, sich zurechtzufinden in »einer Welt, in der man gleich doppelt ausgegrenzt wird, wenn man der oder die Einzige im Raum ist.«12 Merkwürdig zu sein, sei ein Vorrecht der Weißen, da »eine zusätzliche Portion Eigenartigkeit zusätzlich zum Verhalten einer bereits marginalisierten Gruppe gegen die ›Politik der Seriosität‹ verstößt und das Schwarzsein in seiner Authentizität infrage stellt […]. Wenn einem Normalität jahrhundertelang verweigert wurde, ist die Verweigerung von Normalität eine radikale Entscheidung.«12b Ein solcher Widerstand zeigt sich auch in der Aneignung von Horrorsymbolik durch den Hip-Hop-Künstler Lil Nas X, der damit eine queere Identität ausdrückt, die innerhalb des Hip-Hop nach wie vor eine Randerscheinung ist. In dem kontrovers diskutierten Video zu seinem Song Montero

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