Leseprobe

143 Deine Modekreationen wurden als tragbare Skulpturen bezeichnet, da es sich nicht um einfache Kleidungsstücke handelt. Was kannst Du zu dieser Verfremdung und Modifizierung der Silhouette sagen? Ich interessiere mich für die Beziehung zwischen Chaos und Kontrolle; wie wir kreatives Chaos in Kleidungsstücke kanalisieren können, die mit viel Fingerfertigkeit ausgeführt werden. John Carpenter hat behauptet, dass Horror kein Genre sei, sondern eine Reaktion. Verstehst Du manche Deiner Kollektionen als beunruhigende oder schaurige Reaktion auf aktuelle Themen? Absolut. Tim Blanks beschrieb eine unserer Shows einmal als »die modische Schnittstelle zwischen Shakespeare und Clive Barker«. Dieser Satz hat mir immer sehr gut gefallen. Aber ich stimme zu, dass Horror genauso eine Reaktion wie ein Genre ist. Die erwähnte Show war im Herbst/Winter 2015 – unsere erste in London nach sieben Jahren in Paris. In London wollten wir uns mit dem Thema Nationalität auseinandersetzen, weil in Großbritannien ein beunruhigendes Gefühl des Nationalismus spürbar wurde. Die Show selbst war eine Mischung aus Elisabeth I. und einem Fußball-Hooligan. Sie begann mit einem Video, in dem ein Model ihr langes blondes Haar zu einer Kriegerinnenfrisur schneidet und ihren Körper mit einem kruden Georgskreuz rot beschmiert. Rückblickend wird mir bewusst, dass diese Aktion nach all den kulturellen und politischen Ereignissen sehr der Stimmung jener Zeit entsprach. Hat die Londoner Clubszene Deine Arbeit beeinflusst? Oder generell bestimmte Communitys oder Subkulturen? Absolut. Das gilt sowohl für die ganz frühen Shows als auch für unsere letzte Show auf der London Fashion Week 2018, bei der wir die Outsider-Gesellschaft und London als eine Wiege des kreativen Extremismus gefeiert haben. Diese Show war teilweise vom Voguing und der Ballroom-Szene inspiDer britische Modedesigner Gareth Pugh (*1981) ist bekannt für seinen experimentellen Umgang mit Material und Form. Nach seinem Abschluss am Central Saint Martins gründete Pugh 2005 ein eigenes Label und 2018 das Studio Hard + Shiny, das auf Mode, Film und Bühnendesign spezialisiert ist. Pughs Werke waren auf globalen Fashion Weeks vertreten und sind in Zusammenarbeit mit Musikerinnen wie Lady Gaga, Rihanna und Rina Sawayama sowie mit Institutionen wie der Opera Garnier und dem Fashion Institute von MET entstanden. Interview Gareth Pugh riert. Diese Kultur entstand im späten 20. Jahrhundert, angeführt von Schwarzen und Latino-LGBTQIA-Menschen. Sie veranstalteten Festzüge und vereinten Mode, Tanz und Musik in einem Akt radikaler Selbstdarstellung. Wir begannen, uns mit der aufstrebenden BallroomCommunity in London und darüber hinaus zu beschäftigen. Ich wollte eine Show machen, die den House Mothers gewidmet war, also den älteren Mitgliedern der Ballroom-Szene, die sich um die jüngeren Mitglieder ihres House kümmern. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich damals den großartigen Judy Blame verloren hatte, der für mich wie ein Mentor gewesen war. Genau wie die jungen Schwarzen Trans-Kids, die das Herzstück der Ballroom-Kultur ausmachten, war Judy Blames Einstellung kompromisslos und entschieden anti Establishment. Er wuchs in den 80er- und 90er-Jahren auf, als die Kultur zunehmend von Oberflächlichkeit und Besitzdenken bestimmt wurde. Judy war ein Gegenpol dazu, ein kreativer Extremist. Dieses Vermächtnis möchten wir in Ehren halten, indem wir kreativen Talenten Raum zur Entfaltung geben. Gothic und Horror haben einen Hang zur Nonkonformität, denn sie umfassen Haltungen und Figuren, die sich gegen den Mainstream stellen und alternative Realitäten aufzeigen. Erkennst Du bestimmte Aspekte davon in Deiner Arbeit? Ich glaube, alternative Realitäten gab es schon immer – es kommt nur darauf an, ob wir sie zur Kenntnis nehmen und uns auf sie einlassen oder nicht. Ich denke oft an eine Szene aus Cabaret, einem meiner Lieblingsfilme, in der der MC verkündet: »Hier drinnen ist das Leben schön!«. Draußen steht aber die Welt in Flammen. Es geht um die Figur der Zeugin, um Kampf oder Flucht. Siehst Du der Finsternis in die Augen oder schaust Du weg? Das ist entscheidend. Ich denke, die Antwort auf diese Frage bestimmt bis zu einem gewissen Grad, wer Du bist.

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