Leseprobe

15 Die Faszination am Horror Anstelle des Versuchs, unterschiedliche Künstler:innen einem einzigen Genre zuzuordnen, soll der ambivalente Begriff »Horror« in diesem Kontext als zeit- und medienübergreifender roter Faden dienen. Er umfasst Gefühle von Angst und Ekel ebenso wie das Unheimliche. Etliche zeitgenössische Werke versuchen, verschiedene Facetten dieser Emotionen hervorzurufen. Wichtig ist jedoch, dass der Ausdruck auch die Handlungen, Motive und Figuren einschließt, die bereits zum Kanon gehören und selbst Gegenstand von Kritik, Inspiration und endloser Reproduktion wurden. In dieser Ausstellung werden daher verschiedene Interpretationen des Horrors zusammengebracht: von der erschreckenden Filmszene, die das Popcorn durch die Luft fliegen lässt, über das Metal-Albumcover mit bluttriefenden Buchstaben bis hin zu einem Pailletten-Skelettkleid auf einem Laufsteg mit den von einer Künstlerin geschaffenen synthetischen Monsterfiguren. Die vom Horror ausgehende Faszination wurde in dieser transhistorischen und transdisziplinären Form kaum erforscht. Und dafür gibt es gute Gründe: Das Wort wird oft mit oberflächlicher und inhaltsleerer Sensationslust gleichgesetzt. Doch die Assoziationen mit scheinbar sinnlosem Grauen und frivolem Spektakel müssen neu hinterfragt und bewertet werden. Um ein besseres Verständnis davon zu bekommen, was Horror für diesen Essay und die Ausstellung bedeutet, ist es notwendig, zwei zentrale Begriffe zu erläutern: Das »Erhabene«, wie es Edmund Burke 1757 in seinem Text Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen erdacht hat, leitete einen tiefgreifenden Wandel im gesellschaftlichen Denken der damaligen Zeit ein. Er legte den Grundstein für die Romantik mit der Annahme, dass persönliche Empfindungen und Wahrnehmungen einen Einfluss auf die Generierung und Verarbeitung von Wissen haben. In seiner Abhandlung stellte Burke das Konzept als Gegensatz zur »Schönheit« dar, die alles ästhetisch Angenehme umfasst. Das »Erhabene« hingegen ist für ihn ein Zustand des Erstaunens und der intensivsten menschlichen Erfahrung. Burke erkannte, dass »Erfahrungen des Schmerzes und der Gefahr, d. h. alles, was in irgendeiner Weise schrecklich ist […] oder in einer dem Schrecken ähnlichen Weise wirkt […], eine Quelle des Erhabenen ist«.5 Die Tiefe des Ozeans, das Beben der Erde, die Dunkelheit und sogar physischer Schmerz können in ihrer Gewaltigkeit, in ihrer Dunkelheit und Furchtbarkeit erhaben sein. Auch in John Miltons Gedicht Das verlorene Paradies von 1667, das Satans Geschichte nach seinem Höllensturz erzählt, wird die Figur des Todes als »dunkel, unklar, verworren, schrecklich« beschrieben und als »bis zum letzten Grad erhaben«.6 Bezeichnenderweise entsteht gerade durch die Nähe zwischen Furcht und Erhabenheit die Voraussetzung dafür, dass das Entsetzen mehr ist als nur blutiges Grauen – es kann eine Erfahrung beschreiben, die das herkömmliche Denken übersteigt und dabei stärker und komplexer ist als die Schönheit. Ein weiterer wichtiger Aspekt, der zum Verständnis von Horror in diesem Zusammenhang beiträgt, ist der Begriff »Gothic«, der historisch betrachtet zuerst abwertend verwendet wurde. Der Ursprung des Wortes geht auf das germanische Volk der Goten zurück, die das spätantike Rom geplündert und zerstört haben sollen, also den Ort, der als Symbol einer hochentwickelten Zivilisation galt. In der Renaissance wurde mit Gotik die Kunst und Architektur des Mittelalters beschrieben, um Formen der Antiquiertheit und Verschwendung anzuzeigen, weil sie eben nicht auf den Grundsätzen der Rationalität und Funktionalität beruhten. Sie wurde deshalb häufig mit Anti-Modernität gleichgesetzt, diente Künstler:innen jedoch später auch als Mittel der Provokation gegenüber dem bestehenden Zeitgeist.7 Heute befasst sich eine große Anzahl an Expert:innen mit dem soziokulturellen Phänomen »Gothic«; allerdings findet diese Forschung vor allem im britischen Raum statt. Dies lässt sich auf die Entstehung des akademischen Fachbereichs Gothic Studies in Großbritannien in den späten 1970er-Jahren zurückführen, der sich im Zuge der zweiten Welle des Feminismus und der postmodernen Kritik entwickelt hat.8 Gothic ist anhand einer Reihe von ästhetischen und thematischen Motiven

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