Leseprobe

Schrein Erlösung der Der Das Heilige Grab aus der Chemnitzer Jakobikirche im europäischen Kontext

Schrein Erlösung der Der Kunstsammlungen Chemnitz Schloßbergmuseum Uwe Fiedler, Stefan Thiele, Hendrik Thoß Sandstein Verlag Das Heilige Grab aus der Chemnitzer Jakobikirche im europäischen Kontext

Vorwort Uwe Fiedler, Stefan Thiele, Hendrik Thoß Enno Bünz Schauen, handeln, glauben Grundzüge und -probleme der Frömmigkeit um 1500 Justin Kroesen Das Grab Christi in der mittelalterlichen Kunst Formenvielfalt, Platzierung, Ikonografie Johannes Tripps Das Chemnitzer Heiliggrab im Festkreis des mittelalterlichen Kirchenjahres Kamil Kopania Komplexe bewegliche Skulpturen des gekreuzigten Christus im Kontext des spätmittelalterlichen Heiligen Grabes in Chemnitz Rózsa Juhos Das Heilige Grab der Chemnitzer Jakobikirche Funktion und Gestalt Uwe Fiedler Die Kriegsknechte am Chemnitzer Heiligen Grab Zu Datierungs- und Zuschreibungsmöglichkeiten eines Kunstwerks anhand des dargestellten Realienprogramms, insbesondere der spätmittelalterlichen Waffen und Rüstungen Jörg Kestel Über die Restaurierung des Heiligen Grabes aus der St. Jakobikirche zu Chemnitz Stefan Thiele »Das erste und vorzüglichste dieser Denkmäler« Ein Überblick zur Objekt-, Forschungs- und Rezeptionsgeschichte des Heiligen Grabes aus der Chemnitzer Jakobikirche 12 52 74 102 36 8 64 90 116

Markus Hörsch Das Heilige Grab der Zwickauer Marienkirche Peter Husty Der Kerker Christi Ein Reliquienschrein oder doch ein Heiliges Grab aus der Bürgerspitalskirche in Salzburg? Emese Sarkadi Nagy Das Heilige Grab aus Garamszentbenedek im Christlichen Museum, Esztergom Martin Sladeczek Skulpturale Heilige Gräber des Mittelalters in Thüringen Bestand und Schriftquellen Stephan Gasser Das Ostergrab aus der Magerau und die Grablegungsgruppe in der Mossu-Kapelle in Freiburg i. Ue. Zwei spätmittelalterliche Werke von europäischem Rang und ihre Rolle in der Kar- und Osterliturgie Aki Arponen Der sogenannte Reliquienschrein des seligen Hemming im Dom von Turku, Finnland – das verschollene Ostergrab? Jakub Bendkowski Das Grabmal von König Władysław I. Łokietek und seine Freiburg-Straßburger Vorlagen Andrea Seim und Björn Günther Dendrochronologische Untersuchungen am Heiligen Grab aus der Chemnitzer Jakobikirche 138 168 208 222 186 158 176 196 216 Anhang Abbildungsnachweis Impressum

Schauen, handeln, glauben Grundzüge und -probleme der Frömmigkeit um 1500* VON ENNO BÜNZ / LEIPZIG

13 Die anschaulichste und ausführlichste Schilderung des Kirchen- und Frömmigkeitslebens einer Stadt im ausgehenden Mittelalter ist für Biberach in Oberschwaben überliefert (Abb. 1). Unter dem Eindruck der Reformation, die in Biberach 1530 Einzug hielt, schrieb der Patrizier und Ratsherr Joachim I. von Pflummern ausführlich auf, wie sich das kirchliche Leben bislang abgespielt hatte, nun aber der Vergangenheit angehörte.1 Besonders detailliert und umfangreich ist die Beschreibung der Karwoche und des Osterfestes. Ich greife den Karfreitag heraus, der nach den Angaben Joachim von Pflummerns frühmorgens mit einer mehrstündigen Predigt über das Leiden und Sterben Jesu begann. Dann folgten Amt und Vesper. Nachdem die Altaristen und Schüler das Kreuz in die Kirche getragen und vor dem Mittelaltar niedergelegt hatten, folgte die Kreuzanbetung zunächst durch den Pfarrer und die weiteren Geistlichen, dann durch die Gläubigen. Anschließend wurde ihnen das Altarsakrament gereicht. Dann schreibt Joachim von Pflummern »vom heiligen Grab«: »Neben dem Kreuz beim Frauenstüehelin ist gesein ein hübsch gemaltes, verguldts Grab. Da ist der Herrgott gelegen, verdeckt mit einem dünnen Tuoch, daß man unsern Heiland hat sehen können. Das Grab ist vergittert gesein. Es sind auch gewappnete Juden daran gemalen gesein. Neben dem Grab sind von Bürgern und von den Zünften die großen Kerzen gesteckt gesein und haben Tag und Nacht brunnen. Zu beiden Seiten unten und oben sind Schüler gesessen, haben Lesepulte und Psalterbücher vor ihnen gehabt. Daraus haben sie Tag und Nacht wider einander Psalmen gesungen und nimmer aufgehört, man habe denn sonst etwas in der Kirchen ton, bis unser Herrgott erstanden ist. Es ist auch ein Becket beim Grab gestanden, darein hat man für die armen Schüler, die gesungen, um Gottes Wille Geld gelegt. Was auch reiche Leut und Burger sind gesein, die haben den Schülern etwas zu essen und trinken gebracht. Man hat auch das Sakrament in dieses Grab gehenkt, um es anzubeten. Wenn der Herrgott erstanden ist, da hat man es wieder in das Sakramentshaus geton. Die Leute haben vil Lichtlin vor dem Grab brennt, sind niederkniet und haben mit Andacht viel da betet.«2 So verging der Karfreitag mit verschiedenen Andachtsübungen, bis am späten Nachmittag zur Beweihräucherung des Heiligen Grabes eingeladen wurde (»Von der Röche beim Grabe«): »Da sind die Priester mit dem Kreuz aus dem Chor heraus zum Grab gangen, haben da geröcht und das Placebo betet. Ist der Bürgermeister und andere Bürger auch andere Leut hinfür gestanden zur Röche.«3 Was können wir aus dieser kurzen Beschreibung für die Frömmigkeitspraxis lernen? Zunächst einmal, dass es für den Ablauf der Festtage bestimmte verbindliche Vorgaben durch die kirchliche Liturgie gibt, wozu Messfeier und Predigt, aber auch Kreuzverehrung und Totenvesper gehören.4 Innerhalb dieses Rahmens konnte weiteres an Andachtsübungen hinzukommen, denn wenn ein Heiliges Grab vorhanden war, wie in Biberach, dann konnte man am Grab Gebetswache halten und Christus selbst in Gestalt des Altarsakraments dort zur Verehrung aussetzen. Die Schüler der Stadtschule wachten stellvertretend am Heiligen Grab, indem sie ununterbrochen im Wechselgesang die Psalmen beteten. Dieser kirchliche Dienst der Schüler war alles andere als ungewöhnlich, denn sofern es in einer spätmittelalterlichen Stadt eine Schule gab, war es selbstverständlich, dass die Schüler für den Gesangsdienst in der Kirche ausgebildet wurden und als »schola« fungierten.5 Das sind die spätmittelalterlichen Wurzeln der »schola Thomana« in Leipzig oder der »schola Crucis« in Dresden.6 / 1 / Biberach, Pfarrkirche St. Martin, Außenansicht 1 Detail aus: Männer rechts – Frauen links / Abb. 11a

14 Bereits mit dem Kirchendienst der Schüler erfassen wir ein Element der Verflechtung von Kirche und Welt vor der Reformation, die so selbstverständlich war, dass wir hier eigens darauf hinweisen müssen. In diesem Zusammenhang fällt Weiteres in der Schilderung des Joachim von Pflummern auf: Beim Heiligen Grab stand ein Sammelbecken, in dem die Gläubigen Geldspenden für die Schüler hinterließen, die dort die Psalmen sangen. Reichere Bürger brachten den Schülern zudem etwas zu essen und zu trinken. Neben dem Heiligen Grab brannten zudem pausenlos große Kerzen, die von Bürgern und von den Zünften (= Handwerksinnungen) aufgestellt wurden. Weitere Leute entzündeten vor dem Heiligen Grab Kerzen und beteten dort. Als am Nachmittag die Totenvesper am Heiligen Grab gesungen wurde, waren der Bürgermeister und weitere Bürger anwesend. Dies alles wird man nicht als Beleg für die besondere Frömmigkeit der Biberacher zu betrachten haben, sondern es zeigt, dass das kirchliche Leben immer eine Komponente des öffentlichen Lebens und der sozialen Ordnung ist. So erscheinen der Bürgermeister und die Zünfte mit ihren Kerzen als besonders herausgehoben am Heiligen Grab. Einige reiche (und gewiss besonders angesehene) Bürger versorgten die Schüler, die am Heiligen Grab sangen, mit Speis und Trank. Darüber hinaus war das Heilige Grab aber ein öffentlicher Andachtsort, wo nicht nur die städtische Elite, sondern die »Leute« kamen, um Kerzen zu entzünden und zu beten. Nur am Rande sei angemerkt, dass Martin Luther 1530 in seiner »Vermahnung an die Geistlichen auf dem Reichstag zu Augsburg versammelt« genau die hier beschriebenen Frömmigkeitspraktiken wie das Küssen und Verehren des Kreuzes oder das Singen des Psalters am Grabe genannt hat, die er skeptisch betrachtete, freilich nicht pauschal verdammte.7 Der Kirchenhistoriker Bernd Moeller (1931–2020) hat schon vor Jahrzehnten einmal plakativ bemerkt, die Jahrzehnte um 1500 seien eine der »kirchenfrömmsten Zeiten des Mittelalters« gewesen.8 Moeller war in den 1960er Jahren einer der ganz wenigen Kirchenhistoriker (übrigens evangelischer Konfession), die sich eingehend mit dem kirchlichen Leben vor der Reformation beschäftigt haben. Für die meisten evangelischen Kirchenhistoriker hingegen bildeten die spätmittelalterlichen Frömmigkeitspraktiken zumeist nur den düsteren Hintergrund, von dem sich die Reformation dann umso leuchtender abhob. Auch für Kirchenhistoriker katholischer Konfession war das kirchenfromme Leben vor der Glaubensspaltung nicht wirklich ein Thema. Päpste und Konzilien, Ordens- und Klostergeschichte, das stand im Mittelpunkt des Interesses, nicht der kirchliche Alltag der Gläubigen. Das war nicht nur ein Problem der Kirchen-, sondern ebenso der sogenannten Profangeschichte. Die meisten Historiker des Mittelalters (Landeshistoriker eingeschlossen) interessierten sich bis vor wenigen Jahrzehnten nicht für Frömmigkeitsgeschichte und das, was wir heute als den kirchlichen Alltag der Menschen bezeichnen würden. Dabei sei einem Missverständnis gleich vorgegriffen: Wenn von kirchlichem Alltag oder alltäglicher Frömmigkeit die Rede ist, so ist damit keineswegs nur der Alltag des Volkes, also breiter Schichten gemeint, sondern ebenso der Alltag von Fürsten und Patriziern, von Bischöfen und Domherren. Wer sich bis in die 1980er Jahre mit der Frömmigkeit des späten Mittelalters beschäftigen wollte, musste auf ältere Darstellungen wie das Buch von Ludwig Andreas Veit (1879–1939) über volksfrommes Brauchtum und Kirche im Mittelalter von 1936 zurückgreifen.9 Ein Wandel in der Betrachtung der vorreformatorischen Zeit, die bis dahin nur die düstere Folie für das Morgenrot der Reformation abzugeben hatte, setzte Anfang der 1980er Jahre ein. Als Initialzündung ist wohl die große Ausstellung »Martin Luther und die Reformation in Deutschland« anzusehen, die 1983 vom Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg ausgerichtet wurde und an der maßgeblich der bereits erwähnte Kirchenhistoriker Bernd Moeller und der Mittelalterhistoriker Hartmut Boockmann (1934–1998) beteiligt waren.10 Vor allem Boockmann legte nun zahlreiche Studien zur vorreformatorischen Frömmigkeitsgeschichte vor, in denen er neben den Schriftquellen auch immer wieder bislang unbeachtete Bildzeugnisse und Realien zum Sprechen brachte, was in der damaligen geschichtswissenschaftlichen Forschungspraxis neu war.11 Über das Göttinger Graduiertenkolleg »Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts« gelang es Boockmann, Moeller und anderen auch, durch eine Reihe von Dissertationen Forschungslücken zu schließen.12 Der Bielefelder Mittelalterhistoriker Klaus Schreiner (1931–2015) eröffnete vor allem durch sozialgeschichtliche Ansätze bei der Erforschung der Frömmigkeitsgeschichte des späten Mittelalters neue Perspektiven.13 Der österreichische Mediävist Peter Dinzelbacher hingegen rezipierte vor allem mentalitätsgeschichtliche Ansätze der französischen Annales-Schule.14 Die hier nur sehr knapp skizzierte Öffnung der Mittelalter- und Landesgeschichtsforschung zur Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte wirkte auch auf die Kirchen- und Theologiegeschichte zurück, wie vor allem an den Arbeiten führender katholischer und evangelischer Kirchenhistoriker wie Arnold Angenendt (1934–2021)15 und Berndt Hamm16 ablesbar ist, denen wegweisende Forschungen zum späten Mittelalter wie zur Reformationszeit zu verdanken sind. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurden diese vielfältigen Impulse dann auch in den neuen Bundesländern aufgegriffen, in denen die Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte des Mittelalters, insbesondere der vorreformatorischen Zeit bis in den 1990er Jahre weitgehend Terra incognita blieben.17 Die große Ausstellung »Alltag und Frömmigkeit«, die maßgeblich von Hartmut Kühne konzipiert wurde und an der ich mitgewirkt habe, stellt eine wichtige Wegmarke dar.18 Hier muss aber auch von regionalen Initiativen die Rede sein, beispielsweise von der Ausstellung »Des Himmels Fundgrube«, die 2012 hier im Schloßbergmuseum Chemnitz zu sehen war,19 oder einer Ausstellung über die Reformation in Arnstadt und Umgebung 2017/18, die ebenfalls den vorreformatorischen Verhältnissen einige Aufmerksamkeit schenkte.20 Ein Kernproblem der vorreformatorischen Frömmigkeit, das Ablasswesen, wurde von Hartmut Kühne, Peter Wiegand und mir in einem umfangreichen Band über den Leipziger Dominikaner und Ablassprediger Johann Tetzel untersucht.21 Mitteldeutschland gehört mittlerweile zu den frömmigkeitsgeschichtlich besterforschten Regionen in Deutschland, was nicht nur im Vergleich mit den konfessionell stärker katholisch geprägten Landschaften bemerkenswert ist. Im Rheinland hat man sich lange Zeit lieber mit den Kirchenschätzen der Romanik beschäftigt, gerade im Heiligen Köln,22 und in Altbayern spiegelte die reich ent-

15 faltete Frömmigkeit des Barock eine Glaubenswelt, vor der die praxis pietatis früherer Jahrhunderte zu erblassen schien.23 Nun stehen wir hier in Chemnitz vor dem Heiligen Grab, einem Monument der Frömmigkeitsgeschichte der Zeit um 1500, und wollen es verstehen. Der Blick der Fachleute wird sich auf das Denkmal selbst richten und so vieles erkennen und erklären. Aber das Heilige Grab stand als Teil der Kirchenausstattung der Pfarrkirche St. Jakobi in Chemnitz nicht für sich, sondern hatte seine Funktion in einem größeren Zusammenhang, den wir als »praxis pietatis« bezeichnen können. Der Begriff »praxis« verweist auf »Tätigkeit«, »Handlungsweisen« im Rahmen der Frömmigkeit.24 Was ist eigentlich Frömmigkeitsgeschichte? Sie ist mehr als Kirchengeschichte, wie sie vor allem von Vertretern der großen christlichen Bekenntnisse betrieben wird. Dabei geht es um die Frage, was Kirche eigentlich ist, welche Glaubensinhalte ihre Theologie ausmachen und wie sie diese vermittelt. Kirchengeschichte bewegt sich dabei gerne auf den Höhenkämmen theologischer Ideen und ihrer Vordenker, blickt auf die verfasste Kirche in Gestalt des Papsttums, der Bischöfe und Konzilien. Nur selten reicht der Blick hinab bis auf die Ebene der Pfarreien, in denen sich allerdings der Alltag der Christen vollzieht. Als Historiker hat es mich immer wieder überrascht und irritiert, wie wenig sich die Kirchengeschichte eigentlich für die Gemeinden, die einfachen Gläubigen und ihren kirchlichen Alltag interessiert hat. Hier setzt nun die Frömmigkeitsgeschichte an, für die ich auch gerne den Begriff der »praxis pietatis« verwende, um diese der Theologie als gedachten Glauben gegenüberzustellen. Theologie- und Kirchengeschichte zielen auf die Frage, was die Menschen glauben (oder glauben sollen), Frömmigkeitsgeschichte hingegen zielt auf die Frage, wie die Menschen glauben. Kein Wunder, dass sich für die »praxis pietatis« von jeher weniger die Theologie- und Kirchenhistoriker zuständig fühlten, sondern vielmehr Historiker und Kunsthistoriker (früher hätte ich in diesem Zusammenhang auch die Volkskundler genannt, die aber für die Erforschung vergangener Frömmigkeitskulturen keine Rolle mehr spielen).25 Denn die Frage, wie die Menschen glaubten, lässt sich aus unterschiedlichen Perspektiven beantworten: Es geht um den Alltag der Menschen und ihre Lebenswelten, die sich in der Schnittmenge von Kirche und Welt bewegen; es geht um kollektive und individuelle Praktiken und Handlungsweisen, die von »Sitte« und »Brauch« bestimmt wurden;26 es geht um die Nutzung von Bildern und Bildzeugnissen, die Glaubensinhalte nicht nur darstellen, sondern handelnd nachvollziehbar machen. Der berühmte Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) hat einmal treffend bemerkt, es gäbe in unserer Zeit immer weniger nichtreligiöse Gründe, religiös zu sein.27 Die Folgen sind äußerlich an der Kirchenmitgliedschaft ablesbar. Kürzlich wurde gemeldet, dass nicht einmal mehr 50 Prozent der deutschen Gesellschaft einer der großen Kirchen angehören. Noch in den 1950er Jahren waren hingegen weit über 90 Prozent der Deutschen in Ost und West Mitglied einer der Großkirchen.28 Ob sie auch alle praktizierende Christen waren, sei hier dahingestellt. Ich möchte mit diesen Zahlen auf etwas anderes hinweisen: Für die Vormoderne, also das Mittelalter und die Frühe Neuzeit, war nicht nur die Kirchenmitgliedschaft ganz selbstverständlich, sondern auch die religiöse Praxis. Der religiöse Alltag der Menschen war bis in das 18. Jahrhundert durch Teilhabe am kirchlichen Leben geprägt. Die »praxis pietatis« durchdrang das gesellschaftliche Leben, und je überschaubarer die jeweilige Lebenswelt der Menschen war, desto unausweichlicher war es, an Gottesdiensten, liturgischen Feiern, Bruderschaften, Prozessionen und Wallfahrten teilzunehmen. Wer beispielsweise einer Handwerkszunft angehörte, nahm nicht nur an den geselligen Treffen teil, sondern auch an den Gottesdiensten, Prozessionen und Begängnissen von Zunftmitgliedern. Erst die Bewegung der Aufklärung hat im 18. Jahrhundert andere Einstellungen gefördert und es denkbar und möglich gemacht, sich anders zu verhalten als die Mehrheitsgesellschaft. Bis dahin gab es eben, um nochmals Luhmann aufzugreifen, auch nichtreligiöse Gründe, religiös zu sein, wobei man in diesem Zusammenhang nicht einseitig die gesellschaftlichen Zwänge, Herkommen (»Sitte und Brauch«) und nachbarschaftliche Kontrolle im Blick haben sollte, sondern auch die im positiven Sinne tragende Rolle von Religiosität. Man denke nur an die entlastende Rolle von Beichte und Buße, an die Hilfe durch fromme karitative Stiftungen oder die Rolle der Heiligen als Vermittler und Fürsprecher zwischen Gott und den Menschen in Krankheit und Not. Zudem müssen wir noch eines in Rechnung stellen, auch wenn es sich für den Historiker kaum messen und gewichten lässt: dass die Menschen der Vormoderne tatsächlich fromm waren und an Gott geglaubt haben. Gewiss hat es auch in der vormodernen Gesellschaft Menschen gegeben, die nicht glauben konnten oder wollten oder die deviante »religiöse« Ansichten vertreten haben, aber das waren im Mittelalter wie in der Frühen Neuzeit stets nur Einzelfälle.29 Aus heutiger Sicht mag manchen gerade dieses abweichende Verhalten relevant erscheinen, weil es »modern« anmutet, aber wir versperren uns den unbefangenen Blick auf die vormodernen Jahrhunderte, wenn wir die Menschen in ihrer Glaubenshaltung nicht ernst nehmen. Im Gegensatz zur früheren Forschung wird heute die »praxis pietatis« der Menschen des ausgehenden Mittelalters stärker in ihren lebensweltlichen Zusammenhängen gesehen. Das »Frommsein« wurde ja nicht individuell praktiziert, indem man die Kirche seiner Wahl aufsuchte, einen persönlichen Lieblingsheiligen verehrte oder durch Pilgerfahrten aus den alltäglichen Lebenszusammenhängen ausbrach. Den Spielraum persönlicher Frömmigkeit begrenzte zunächst die eigene Stadt beziehungsweise für die Masse der Bevölkerung um 1500 das eigene Dorf, und in Stadt wie Land war der primäre Ort des kirchlichen Lebens die eigene Pfarrkirche, an die jeder Christ nach dem Wohnortprinzip durch den Pfarrzwang gebunden war.30 In der Ausstellung über »Alltag und Frömmigkeit« in Mitteldeutschland haben wir deshalb die Pfarrei zum Ausgangspunkt der Darstellung gewählt und daran dann weitere Aspekte angeschlossen. Die Pfarrei war die Institution und Lebensform, in der die allermeisten Gläubigen in ihrem Alltag mit der Amtskirche in Berührung kamen, ob sie wollten oder nicht. Die Pfarrei und der damit verbundene Pfarrzwang sorgten dafür, dass die Gläubigen dort die Pflichtgottesdienste an Sonn- und Feiertagen besuchten, das Altarsakrament empfingen, die Beichte ablegten, dort die Ehe einsegnen ließen. In der Pfarrkirche wurden die Neugeborenen getauft, um die Pfarrkirche herum auf dem Kirchhof wurden die

16 verstorbenen Pfarreimitglieder zur letzten Ruhe gebettet. Auf dem Dorf war die Pfarrei als kirchlicher Dienstleister praktisch unentrinnbar. In den Städten, zumindest in den größeren, konnten sich vielerorts seit dem 13. Jahrhundert Bettelordenskonvente etablieren, in sächsischen Städten vor allem die Franziskaner und die Dominikaner, vereinzelt auch die Augustinereremiten. Die Angehörigen der Bettelorden waren theologisch gut ausgebildet, asketisch profiliert, als Prediger erfahren, und die Mendikanten stellten mit ihren paraparochialen Strukturen eine Herausforderung für die Pfarrseelsorge dar, wodurch mancherorts Streitigkeiten und Konflikte entstanden,31 doch wurden diese Konfliktzonen im Laufe des Spätmittelalters bereinigt. Im Zentrum steht also die Pfarrei, eine Institution, die eigentlich inklusiv war, denn jeder Christ – und wer war dies nicht in den Jahrhunderten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit? – war durch das Wohnortprinzip an eine bestimmte Pfarrei gebunden. Man nennt dieses Organisationsprinzip bis heute »Pfarrzwang«. Jedem Christen war klar, zu welcher Pfarrei er gehörte. Dort hatte er seine Ehe einsegnen zu lassen, dort wurden seine Kinder getauft, dort empfing er die Kommunion in den sonn- und feiertäglichen Gottesdiensten, und wenn es auf das Ende zuging, empfing er vom Pfarrer die Letzte Ölung sowie das Viaticum (Abb. 2) und wusste, wo er seine letzte Ruhestätte finden würde, nämlich auf dem Friedhof, der in der Stadt wie auf dem Land die Pfarrkirche umgab. Die Pfarrkirchen waren Orte der Verkündigung und Seelsorge, sie waren Orte des Gebets und des Gedenkens, sie waren aber auch durch Ausstattung und Stiftungen ein Spiegel der Gesellschaft und Schnittstellen des kirchlichen und weltlichen Lebens. Die Kirchenorganisation war keine Struktur, die den Menschen von der Bistumsleitung oder anderen Autoritäten übergestülpt wurde; sie wuchs von unten her, weil es ein Grundbedürfnis der Gläubigen war, eine Kirche vor Ort zu haben und damit einen Priester, der ihnen die Sakramente spenden konnte. So wuchs die Pfarrorganisation im Laufe des Mittelalters. Im Bistum Meißen, zu dem im Mittelalter auch Chemnitz gehörte, gab es um 1100 etwa 40 Pfarrkirchen, aber weite Teile des Bistums waren zu dieser Zeit noch gar nicht besiedelt. 400 Jahre später, um 1500, bestanden über 900 Pfarrkirchen, und damit waren selbst die entlegensten Winkel des Erzgebirges oder der Oberlausitz kirchlich erschlossen.32 Schon bis 1300 war die Entwicklung weitgehend abgeschlossen, doch gab es mancherorts auch noch im 14. und 15. Jahrhundert Initiativen, neue Kirchen zu gründen. In der Regel wurden die Ortsherren aktiv, wodurch sich erklärt, warum es in Sachsen so viele Dorfkirchen gab, die einem adligen Patronatsherrn unterstanden, aber diese Kirchengründungen wurden auch von den Dorfgemeinden, also von den Menschen vor Ort, mitfinanziert. Bei einer Pfarreigründung war es ja nicht damit getan, dass man einen Baugrund hatte und dort eine Kirche errichtete, sondern die Kirche musste auch mit Altären, Altargerät (Vasa sacra), liturgischen Gewändern und Büchern für die Gottesdienstfeier ausgestattet werden. Und nicht zuletzt musste der Pfarrgeistliche finanziert werden, indem eine Pfründe ausgestattet wurde. Auf dem Land umfasste eine solche Pfarrpfründe zumeist Äcker und Wiesen, die der Pfarrer bewirtschaften lassen konnte, während in der Stadt Geldzinse und andere Einkünfte für die Finanzierung des Pfarrers eine größere Rolle spielten.33 / 2 / Lukas Cranach d. Ä., Der Sterbende, 1518, Museum der bildenden Künste in Leipzig

17 Viele Pfarrkirchen in Sachsen reichen in das Mittelalter zurück. Zumindest die Kirchengebäude zeigen vielfach romanische und/ oder gotische Bauformen, aber das Kircheninnere vermittelt höchstens noch ansatzweise eine Vorstellung davon, wie es in einer Kirche vor der Reformation aussah.34 Zweifellos sind gerade aus den Jahrzehnten um 1500 viele Bestandteile der Kirchenausstattung erhalten geblieben,35 aber das ist gewiss nicht nur mit einer größeren Überlieferungschance dieser Ausstattungsstücke zu erklären, sondern auch damit, dass die Ausstattung der Kirchen um 1500 ungleich umfangreicher und vielfältiger war als in den vorhergehenden Jahrhunderten. Gleichwohl ging vieles verloren. Vor allem die Ausstattung mit zahlreichen Altären und anderen Bildwerken ist seit der Reformation erheblich reduziert worden. Zwar ist die Vorstellung falsch, im Bereich der lutherischen Reformation habe es einen Bildersturm oder eine systematische Beseitigung vorreformatorischer Bilder gegeben, aber die Jahrhunderte nach der Reformation haben ihre Spuren hinterlassen. Kirchen wurden im Stil der Renaissance, des Barock oder des Klassizismus modernisiert, wobei man noch bis weit ins 19. Jahrhundert wenig Rücksicht auf historische Bausubstanz nahm, sondern die Kirchen einfach durch Neubauten ersetzte.36 Wo nicht neu gebaut wurde, purifizierte man die Kirchenräume, so dass nach und nach ältere Ausstattungsstücke beiseite geräumt und in sogenannten Götzenkammern deponiert wurden.37 Erst im 19. Jahrhundert wuchs das Bewusstsein, dass das ausrangierte historische Inventar einer Kirche im Museum besser aufgehoben ist als in einer Rumpelkammer auf dem Dachboden der Kirche.38 Es bedarf heute also großer Fantasie, um die Ausgestaltung einer mittelalterlichen Kirche zu erfassen. Man könnte versuchen, durch vielfältige Quellenrecherchen die einstige Ausstattung einer Pfarrkirche zu rekonstruieren, aber das wird lückenlos kaum gelingen.39 Am günstigsten ist die Quellenlage hinsichtlich der Altäre, die ehemals vorhanden waren und auf denen im Spätmittelalter aufwendig geschnitzte oder bemalte Altarretabel standen. Mancherorts haben sich Geschichtsinteressierte auch die Mühe gemacht, Grabsteine und ihre Inschriften zu kopieren, beispielsweise der Magister Salomon Stepner in Leipzig, der zahlreiche Grabschriften kopiert hat, die später verloren gingen.40 Nur wenige künstlerisch aufwendig gestaltete Epitaphien sind in den Pfarrkirchen erhalten geblieben.41 Noch ungünstiger stand es um die Erhaltungschancen religiöser Bildwerke, die eindeutig mit vorreformatorischen Praktiken wie Heiligenverehrung oder Ablassfrömmigkeit verbunden waren. Vor diesem Hintergrund grenzt es an ein Wunder, dass sowohl hier in Chemnitz als auch in der Zwickauer Marienkirche Heilige Gräber erhalten geblieben sind. Weitgehend verloren sind auch fest mit dem Kirchengebäude verbundene Ausstattungselemente wie Wandmalerei oder Glasmalerei.42 Nach so vielen Einschränkungen und Hinweisen muss aber auch etwas positiv hervorgehoben werden: Die »bewahrende Kraft des Luthertums« ist in der Kunstgeschichte zu einem geflügelten Wort geworden,43 seit sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die Erhaltungschancen für vorreformatorische Ausstattungsstücke in evangelischen Kirchen größer war als in katholischen Gotteshäusern, wo im Zuge liturgischer Wandlungen eher neugestaltet als bewahrt wurde. Frommsein im Mittelalter bedarf der Grundlegung durch eine kirchliche Sozialisierung, die nicht nur bestimmte Verhaltensformen vermittelt, sondern durch Katechese auch Grundlagen des christlichen Glaubens legt. Was musste ein Christ wissen? Zumindest die Grundgebete des Vaterunser und des Ave Maria sowie die Grundtexte des Glaubens, nämlich das Apostolische Glaubensbekenntnis und die Zehn Gebote. Die eingangs zitierten Aufzeichnungen des Joachim von Pflummern über das religiöse Leben in Biberach vor der Reformation beginnen mit diesen Basistexten, die jeder Christ zu kennen habe: »Von Erst von dem Hayligen Christenlichen glauben, wie dann von den Hayligen zwölff Botten gesetzt ist, den Haben wüer glaubt«, dann das Vaterunser, das Ave Maria und schließlich die Zehn Gebote.44 Pflummern präsentierte Weiteres, was ein Christ wissen sollte: die Sieben Sakramente, die sechs Werke der Barmherzigkeit, die sieben Sünden gegen den Heiligen Geist, die vier Todsünden, die schweren Sünden, die Bedeutung von Reue, Beichte, Buße, Himmel, Hölle, Fegefeuer, die Verehrung der Muttergottes und der Heiligen, das Gebet für die Armen Seelen im Fegefeuer, Heiligenbilder, Gebet, Andachtsformen (Besuch der Kirchen, Teilnahme an Messen, Ämtern und Umgängen, Wallfahrten, Besuch der Kirchen vor Ort und in der Umgebung, Gebrauch von Andachtsbüchern und Andachtsbildchen, Figurenprozessionen, häusliche Andachtsorte), Papst, Heilige Messe, Heiltum (Reliquien), gute Worte und Werke, Ehrbarkeit und Leichtfertigkeit, / 3 / Gedrucktes Andachtsbild (St. Clara), um 1520/1530

Das Chemnitzer Heiliggrab im Festkreis des mittelalterlichen Kirchenjahres VON JOHANNES TRIPPS / LEIPZIG

53 In der gebotenen Kürze wird in den kommenden Abschnitten durch das Kirchenjahr gegangen, um den Blick auf Forschungsdesiderata zu lenken, denn das Chemnitzer Heiliggrab ist Teil eines Festzyklus, der mit handelnden Bildwerken begangen wurde.1 Es geht um eben jene beweglichen Figuren, mit denen man das Geschehen der Kirchenfeste nacherlebte. Über die Geschehnisse informieren detailreich Stiftungsurkunden anlässlich hoher Festtage wie zum Beispiel für den Karfreitag. Reichhaltig sind auch die Schilderungen in Stadtchroniken, vor allem sakrale Spiele betreffend.2 Weitere Schilderungen enthalten Libri Ordinarii oder Breviarii (Regiebücher für den Gottesdienst). Unendlich detailreich sind jene, die am Vorabend der Reformation oder während derselben verfasst wurden. Wer in ihnen blättert, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Verfasser angesichts des Untergangs der alten Ordnung versuchten, das Althergebrachte wenigstens in Form eines schriftlichen Vermächtnisses über die Zeiten zu retten. »Christkinder« und »Kindelwiegen« Den Reigen eröffnet – gemäß kirchlichem Kalender – das Weihnachtsfest. Man läutete zur Mitternachtsmesse samt Kindelwiegen.3 Dies konnte auch zur Frühmesse stattfinden. Die Gemeinde traf sich im Chor ihrer Kirche und wiegte zu Gesängen ein Christkind. Das wurde aus der Wiege genommen und unter den Teilnehmern herumgereicht, wobei viele es küssten. Dann kam das Kindlein in seiner Wiege auf den Hochaltar, wo das Ensemble bis zum Fest Mariä Lichtmess stehen blieb. Die Verehrung solcher Christkinder fand ursprünglich in Klöstern statt, aber unter den Franziskanern und Dominikanern wurde es den Laien als Hausandachtsbild zur rechtgläubigen Erziehung angeraten.4 Folglich gehörte ein Kindlein samt Wiege und Kleidchen zur Ausstattung mancher Bürgerstochter.5 Vor diesem Hintergrund erklärt sich somit der vielerorts geübte Brauch, dass man das hauseigene Christkind samt Wiege mit in die Kirche nahm, wo dann ein kollektives Wiegen stattfand. Darüber hinaus wiegte man das Kindlein zu Weihnachten auch im privaten Kreise und sang dazu.6 Anstatt eines Wiegenkindes wurde oft ein stehendes Christkind mit Weltkugel, mit einem Vögelchen oder mit einer Weintraube in der Hand, das einen Segensgestus machte, auf den Altar gestellt und blieb dort bis zum Fest »Purificatio Mariae« (Mariä Lichtmess).7 Viele Dom- und Stiftskirchen besaßen derer zwei, wie beispielsweise die Kathedrale von Fribourg in der Schweiz: Ein Knäblein stand auf dem Altar für die Geistlichkeit, ein zweites auf dem für die Laien.8 Christkinder, vor allem auf Kissen sitzende, kamen darüber hinaus am Tag Mariä Lichtmess zum Einsatz. In einer feierlichen Prozession brachte Maria ihr Kindlein zum Tempel, das heißt zur Kirche, wo der greise Simeon und die Prophetin Hanna auf den Erlöser trafen. Ihnen war geweissagt, dass sie erst sterben durften, wenn sie den Immanuel gesehen hatten.9 Die Rollen der biblischen Figuren übernahmen, wie in Augsburg oder Padua, Kleriker, in Beverley die Mitglieder der Marienbruderschaft, oder man trug, wie in Konstanz, eine Muttergottes mit abnehmbarem Kindlein zur Kirche.10 Palmesel – Finsternmette – Kruzifixe mit beweglichen Armen Die meisten »handelnden Bildwerke« fanden jedoch zwischen Palmsonntag und Ostersonntag Verwendung. Am Palmsonntag stand die Figur eines Palmesels im Zentrum des Geschehens. In der Vita des heiligen Ulrich von Augsburg, entstanden zwischen 982 und 992, ist erstmals ein Palmesel als »effigies sedentis domini super asinum« genannt. Die Forschung stritt bislang darüber, ob die genannte »effigies« ein Bild oder eine Skulptur sei.11 Da aber der älteste erhaltene Palmesel, nämlich der aus Steinen, heute im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich, jüngst durch die Radiocarbonmethode in die Zeit um 1055 datiert wurde, haben wir ein weiteres Argument für die Deutung besagter »effigies« in der Ulrichsvita als Skulptur (Abb. 1).12 Mit einer solchen zog man vielfach von außerhalb auf die Stadt zu.13 An der ersten Station begann die Feier mit einem Lesegottesdienst und anschließender Segnung der »Palmzweige«, meist Buchsbaum-, Wacholder- oder Weidenzweige usw. Bei der zweiten Station sang man den Hymnus Gloria laus. Der zelebrierende Priester warf sich vor der Figurengruppe nieder und wurde von einem anderen gemäß dem Gotteswort Matthäus 26,31, »Ich werde den / 1 / Palmesel aus Steinen, um 1050, Zürich, Schweize- risches Landesmuseum 1 Detail aus: Freudenstädter Lesepult / Abb. 8

54 Hirten schlagen, dann werden sich die Schafe der Herde zerstreuen«, rituell mit einem Zweig auf den Rücken geschlagen. Die Prozessionsteilnehmer warfen ihre gesegneten Palmen nun gegen den Esel, das sogenannte Palmenschießen. Dann zog die Prozession samt Esel weiter zur jeweiligen Kirche und sang dabei den liturgischen Wechselgesang Ingrediente Domino.14 Je nach Ort wurde der Verlauf der Prozession variiert. Man nahm zum Schluss die Zweige mit nach Hause, denn sie vertrieben die Unwetter, wenn man mit ihnen räucherte. Der Palmesel war vielfach als ganzjähriges Andachtsbild sichtbar. Er hatte in der Kirche oder auf dem Friedhof seinen »Eselsstall«.15 In der Nacht auf Gründonnerstag feierte man die Finsternmette, bei der die Glocken verstummten. An ihrer Stelle rief man nun mit Holzrätschen oder Rumpelbrettern zu den Feierlichkeiten bis Ostersonntag. Im Zentrum der Finsternmette stand ein 13- oder 15-armiger Tenebrae-Leuchter. Mit dem Ende eines jeden der sieben Psalmen des Miserere löschte man zwei der Kerzen zum Zeichen des Abfalls der Apostel von Christus. Nur die letzte Kerze, die die Muttergottes symbolisierte, löschte man nicht. Der Priester trug sie hinter den Altar oder in die Sakristei, denn Maria war nie von ihrem Sohn abgefallen. Mit dieser Kerze entzündete man dann die Osterkerze.16 In der letzten Messe des Gründonnerstags wandelte der Priester zwei weitere Hostien für den Karfreitag, denn am Karfreitag feierte er die Missa praesanctificatorum, da die Wandlung entfiel. Das Zeremoniale des Hochstifts zu Basel, niedergeschrieben zwischen 1517 und 1526 vom Domkaplan Hieronymus Brilinger, informiert nicht nur detailreich, sondern erläutert auch den theologischen Hintergrund: Am Karfreitag nimmt der Priester jene beiden bereits am Gründonnerstag gewandelten Hostien; die eine zerbricht er in drei Teile. Den dritten Teil senkt er in den Kelch »und«, wie Brilinger erläutert, »der heute nicht konsekrierte Wein wird geheiligt durch den Leib des Herrn«. Die andere Hostie jedoch legt der Priester in einen Kelch und deckt diesen mit der Patene zu. In feierlicher Prozession trägt er anschließend den Kelch mit der Hostie ins Ostergrab.17 Ursprünglich wurde die Handlung in zwei Teilen vollzogen: Man legte ein verhülltes Kreuz vor den Hochaltar zur »adoratio crucis«, enthüllte dem Kruzifix die Wundmale der Füße, und der Klerus wie die Gemeinde küssten diese. Dann folgte mit der Beisetzung des Kreuzes im Ostergrab die »depositio crucis«. Am Ostermorgen hob man zum Zeichen der Auferstehung das Kreuz aus dem Grab, die »elevatio crucis«. Oftmals wurde, wie in Hof, der sogenannte Höllensturm durchgeführt. Der Geistliche zog mit den Schülern drei Mal um die Kirche und pochte jedes Mal mit jenem Kreuz an die Kirchentür, das im Ostergrab gelegen hatte, und rief den »Teufeln«, die im Innern die Kirchentüre blockierten, zu: »Attolite portas principes vestras et domini portas aeternales et introibit rex gloriae.« Die Teufel riefen keck zurück: »Quis est iste rex gloriae«, und der Geistliche antwortete, »Dominus virtutum, ipse est rex gloriae«. Beim dritten und letzten Mal gaben sich die »Teufel« geschlagen, und die Kirche wurde »gestürmt«.18 Seit dem späten 13. Jahrhundert sind überall in Europa Kruzifixe mit beweglichen Armen in der Festtagsliturgie nachweisbar.19 Über Spanien gelangten solche Figuren in die Neue Welt, denn für Mexiko sind bislang zwei Fälle aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bekannt: aus Santo Domingo Yanhuitlan und aus Santo Domingo in Mexico City.20 Wie stark dieses Miterleben von Tod und Auferstehung Jesu Christi als Hoffnungszeichen für die eigene Auferstehung verstanden wurde, zeigt das Vermächtnis Herzog Georgs von Sachsen und seiner Gemahlin Barbara: Beide beurkunden, geleitet von dem Gedanken, dass sie auf dieser Welt keine bleibende Stätte hätten, am 23. März 1513 eine Stiftung in den Meißner Dom. Mit ihr wollte das Herzogspaar die Menschen zu einer tieferen und andächtigen Betrachtung des Leidens und Sterbens Jesu Christi anleiten und dabei deren Fürbitte für ein seliges Ableben und für eine fröhliche Auferstehung erlangen.21 Am Karfreitag wird ein großes Kreuz »cum imagine crucifixi habentis iuncturas flexibiles in scapulis« (»mit dem Bild eines Kruzifixes, welches bewegliche Gelenke in den Schultern hat«) mitten im Chor aufgerichtet.22 Zur Vesper ziehen zwei als Engel gekleidete junge Männer zum Chor, gefolgt von zwei Kanonikern und zwei Vikaren, die die Bahre mit dem Leichentuch tragen. Dieser Trauerzug kommt aus der Sakristei und hält vor dem Kreuz. Die Kleriker ziehen dem Gekreuzigten die Nägel aus den Wunden, nehmen ihn vom Kreuz ab und entfernen die Dornenkrone. Der eine Engel birgt die vier Nägel, der andere die Dornenkrone. Hernach schlägt man den toten Herrn ins Leichentuch ein, lässt dabei sein Antlitz frei, und legt ihn auf die Bahre. Engel wie Träger verharren bis zum Ende der Vesper zu Haupt und Füßen Christi. Anschließend konstituiert sich der Leichenzug, indem »Juvenes, chorales et capellani« mit brennenden Kerzen vor dem Leichnam einhergehen. Hinter diesem wird das Sakrament getragen.23 Es folgen Kanoniker und Vikare. Der Leichenkondukt tritt aus dem Chor, zieht durch dessen Umgang, dann durch die Kirche hinab zur Grablege in der Fürstenkapelle, schließlich von dort wieder zurück, »usque ad solitum ecclesiae sepulchrum«, wo die Skulptur des toten Herrn zusammen mit der Hostie beigesetzt wird.24 Eine solche Stiftung machte 1517 auch Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen für die Allerheiligenkirche zu Wittenberg: »zcu dancksagung des heylwertigen und bittern leydens unseres lieben hern und Selig- machers. Auch zcu heyl, trost und selickeit unsers gnedigsten hern des Churfürsten zcu Sachsen [...] und der ganzen Christenheit [...].«25 Da das Wittenberger Grab gemäß den Quellen ein ganz ähnliches Aussehen gehabt haben dürfte wie das Chemnitzer, sei der Wittenberger Fall ausführlicher geschildert: Ein Ausschuss, bestehend aus dem kurfürstlichen Amtmann, dem Propst von Allerheiligen, dem Rektor der Universität und dem städtischen Magistrat, wählte eine Schar von 14 Männern aus, bestehend aus Hausarmen der Stadt, Bettelstudenten und bedürftigen Schülern. Sie bekamen neue Kleider und ein Almosen. So angetan nahmen sie an den Feierlichkeiten des Karfreitags, des Karsamstags und der Osternacht im Allerheiligenstift teil. Am Gründonnerstag richtete man ein Kreuz vor dem Kreuzaltar der Stiftskirche auf, an dem das Kruzifix mit beweglichen Armen hing. Vor der Vesper des Karfreitags schlüpften vier Kapläne des Stiftes in der Sakristei in Judenkleider. Während dessen lehnte der Küster zwei Leitern an den Querbalken des Kreuzes und stellte eine Bahre bereit. Die 14 neu eingekleideten Armen zogen gemeinsam mit den vier Kaplänen zum Kreuzaltar. Zwei der Kapläne kletterten die Leitern hinauf und nahmen in den Rollen des Nikodemus und Josef von Arimathäa den Herrn vom Kreuz ab. Sie legten ihn auf die Bahre, und die vier Kapläne trugen den toten Herrn in den Chor, begleitet von den 14 Armen mit großen Kerzen in Händen. Dort stand das Ostergrab. Dem Zug hatte sich die Stiftsgeistlichkeit angeschlossen. Dann senkte man den Leib des Herrn ins Ostergrab. Er war aus Holz und konnte auseinandergenommen werden. Das Grab muss eindrucksvoll gewesen sein, denn es

55 diente Erzbischof Albrecht von Brandenburg als Vorbild für jenes, das er der Hallenser Stiftskirche verehrte. Von Karfreitag bis zu Beginn der Osterfeier illuminierten 36 Wachslichter das Wittenberger Grab. Des Weiteren schützten es vier »Schregen«, auf die insgesamt 22 Wachslichter gesteckt waren. Hinzu kamen die auf separate Messingleuchter gesteckten 14 Wachskerzen jener neueingekleideten Armen. Letztere nahmen gemeinsam mit der Stiftsgeistlichkeit nach der Karfreitagsvesper noch an vier weiteren Prozessionen zum Ostergrab teil. Dort sangen die Chorschüler beständig Psalmen, was der Praxis des »Vierzigstündigen Gebetes« entsprach, das die gesamte Zeit der Grabesruhe Christi ausfüllte. Dieses Singen der Schüler war überall Brauch.26 Trotz des Kultes mit dem Bild wird ein Kelch mit der Hostie mitgetragen und gemeinsam mit dem Kruzifix mit schwenkbaren Armen im Grab beigesetzt. Oft haben diese Gräber sogar eine Konsole oder Nische für den Kelch mit dem Leib des Herrn, wie das Heiliggrab aus der Bürgerspitalskirche zu Salzburg oder jenes aus Tils im Diözesanmuseum der Hofburg zu Brixen.27 Chemnitz, Zwickau und Sankt Benedikt an der Gran besitzen bis heute gewaltige Ostergräber; für Wittenberg und Halle sind sie archivalisch überliefert. Das Zwickauer und das zu Sankt Benedikt können sogar auf Rollen geschoben werden, was auch für das Wiener Grab zu Sankt Stephan schriftlich belegt ist.28 / 2 und 3 / Kruzifix mit schwenkbaren Armen, Rückseite des Kruzifixes, um 1510, Döbeln, St. Nikolai

56 Der Realitätsgrad solcher Kruzifixe mit beweglichen Armen wurde häufig mithilfe von Perücken für Haupthaar und Bart gesteigert. Beispiele blieben in Bad Wimpfen am Berg, Großkochberg oder in Blankenhain (jetzt Jena, Stadtmuseum) erhalten, um nur drei zu nennen.29 Was das naturalistische Aussehen dieser Kruzifixe betrifft, kannte das Spätmittelalter scheinbar keine Grenzen. Ein wahres Wunderwerk hat sich in der Stadtkirche St. Nikolai zu Döbeln erhalten.30 Dieses Kruzifix konnte infolge lederner Gelenke nahezu sämtliche Gliedmaßen einschließlich des Kopfes bewegen, blutete aus der Seitenwunde und hatte Perücken für Haar und Bart, darüber hinaus ein textiles Lendentuch. Der Grund für diesen Realismus könnte in folgenden Fakten liegen: Die dramenartigen Szenen, welche Liturgie und handelndes Bildwerk boten, führten vielfach dazu, dass derartige Kruzifixe in Mysterienspiele integriert wurden. So geschah es 1448 in Perugia. Am Karfreitag schleppte dort Christus, dargestellt vom Barbier Eliseo de Cristofano, von der Kirche San Lorenzo aus das Kreuz in einem weiten Bogen durch die Stadt und wieder zu genannter Kirche zurück. Beim anschließend vor der Fassade von San Lorenzo aufgeführten Mysterienspiel wurde aber ein Kruzifix mit beweglichen Armen verwendet. Man kreuzigte es, und die drei Marien und Johannes klagten laut; danach nahm man es ab, legte es in den Schoß der Gottesmutter, die ihren Sohn, gleich einem lebendigen Vesperbild, heftig betrauerte. Zum Schluss setzten Nikodemus und Josef von Arimathäa den Heiland bei. Alles geschah, wie der Chronist an mehreren Stellen hervorhob, unter vielfachem Wehklagen und Weinen der Peruginer Bevölkerung.31 Wahrscheinlich haben wir in jenem Kruzifix in Döbeln eine solche Figur vor uns, die nach der Abnahme vom Kreuz dem Darsteller der Gottesmutter zur Trauer in den Schoß gelegt wurde (Abb. 2). Nimmt man das Bildwerk nämlich in den Schoß, dann fällt ihm – ganz wie bei Vesperbildern üblich – der Kopf ins Genick und die Beine klappen zu Boden. Das Döbelner Kruzifix besitzt ein 150 Jahre älteres Gegenstück im Berliner Bode-Museum. Jenes stammt aus Lucca und wurde um 1360/1370 in der Werkstatt Nino Pisanos geschaffen.32 Das Döbelner Kruzifix kann jedoch noch mehr, denn es verfügt über zwei weitere Besonderheiten: Stach man es in seine Seitenwunde, so quoll Blut (Wein?) heraus; im Rücken der Figur ist bis heute das Fach für den Behälter erhalten (Abb. 3).33 Des Weiteren ist es ein nacktes Kruzifix, das heißt sein Lendentuch war aus Stoff.34 Den Grund für beide Phänomene erhellen Textquellen: Im Dialogus Beatae Mariae et Anselmi de Passione Domini (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts) erzählt die Muttergottes dem Anselm die Leidensgeschichte.35 Maria erfährt im Haus ihrer Schwester, der Mutter des Johannes, von der Gefangennahme Jesu. Daraufhin eilt sie zunächst zum Haus Annas, dann zu Herodes, zu Pilatus und zu Kaiphas. Dies in der Hoffnung, der Sohn werde freigelassen. Am Kreuzweg schließlich trifft sie auf den geschundenen und verurteilten Herrn, der zum Zeichen der völligen Erniedrigung das Kreuz nackt zu schleppen hat. Maria bindet ihm in ihrer Not ihren / 4 / Vesperbild mit abnehmbarem Kruzifix mit schwenkbaren Armen, um 1330, Rottweil, St. Pelagius / 5 / Giovanni Teutonico, Kruzifix, 1494, Norcia, Santa Maria in Argentea

57 eigenen Schleier um und wird dabei ganz vom Blut des Sohnes benetzt.36 Dieses Motiv nimmt in den Meditationes Vitae Christi des Johannes de Caulibus breiten Raum ein.37 Christus wird völlig entblößt ans Kreuz geschlagen, die Gottesmutter gibt ihren Schleier hin, um die Blöße des Sohnes zu bedecken.38 Mitreißend detailreich schildert die Vita Beate Virginis Mariae et Salvatoris rhytmica den Schmerz Mariens: Sie klagt, rauft ihre Haare, schlägt sich auf die Brust und kratzt sich mit den Fingernägeln die Wangen auf. Die Soldaten behandeln sie unwürdig und jagen sie immer wieder vom Kreuz weg. Als sie bei der Kreuzigung die Blöße ihres Sohnes sieht, löst sie ihren Schleier und bittet Maria Magdalena, einen der Soldaten zu erweichen, ihn ihrem Sohn doch umzubinden.39 In der Bordesholmer Marienklage, in der Frankfurter Dirigierrolle, in den Schauspieltexten zu Heidelberg, Alsfeld und Eger schlingt die Gottesmutter selbst ihren Schleier um die Hüften Christi, um so dessen Blöße zu bedecken.40 Bei den Kreuzabnahmen zu Bordesholm und Frankfurt wird die heilsgeschichtliche Bedeutung des Schleiers »expressis verbis« hervorgehoben: Die Jungfrau bittet Johannes, er möge ihr denselben zurückholen, weil in das Tuch Blut des Gottessohnes geflossen sei, das noch vielen Menschen zum Trost gereichen werde; ihre letzten Verse enthalten die Fürbitte, es möchten alle, die mit ihr getrauert haben, die Frucht der frommen »compassio«, das Ewige Leben, erhalten.41 Die Marienleben bereichern das Motiv um eine Szene: Maria überreicht Maria Magdalena den Schleier mit der Bitte, sie möge einen der Soldaten erweichen, ihn dem Sohne umzubinden. Doch Maria Magdalena will das nicht dulden und gibt ihren eigenen Schleier.42 All die aufgezählten Texte erklären völlig nachvollziehbar die Gestaltung des Döbelner Kruzifixes als Aktfigur: Als Mittelpunkt der Karfreitagsoffizien, beziehungsweise der dramatischen Marienklagen, benötigte man die Figur nackt, um ihr dabei im Verlauf der Handlung den Schleier der Gottesmutter umbinden zu können. Zum einen um, wie es die Texte berichten, dadurch die Schmach der Nacktheit zu tilgen. Zum anderen, weil in den Schleier jenes Blut floss, aus dem das Heil der Menschheit entspringe. In diesen Zusammenhang gehört ein bislang ungelöstes Rätsel: Sieben Vesperbilder blieben erhalten, davon zwei fragmentarisch, bei denen sich eine Christusfigur mit beweglichen Armen der Muttergottes in den Schoß legen lässt. Die fünf vollständig erhaltenen befinden sich in der Martinskapelle in Daisendorf bei Meersburg, in der Pelagiuskirche zu Rottweil (Abb. 4), in St. Martin in Bamberg (bis 1803 in der Pfarrkirche), in Watterdingen bei Konstanz sowie im Augustiner Museum in Freiburg (aus dem Münster in Radolfzell). Vier weitere existieren in Kleinpolen und Böhmen: Das älteste, aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist das Vesperbild zu Łęki Strzyżowskie in Kleinpolen, gefolgt von jenem aus Lásenice (P 4572, Prag, National Galerie, erste Hälfte des 15. Jahrhunderts), welches möglicherweise aus dem Franziskanerkloster von Jindřichův Hradec stammt. Das dritte und vierte Beispiel sind die Vesperbilder zu Jihlava und – mit Vorsicht – dasjenige zu Cheb in Westböhmen. Der Erhaltungszustand des letzteren lässt nicht entscheiden, ob die Zweiteiligkeit der Gruppe liturgisch oder konstruktiv bedingt ist.43 Hier stellt sich die Frage, ob jeweils Marienklagen mithilfe dieser Figuren durchgeführt wurden, indem man ihnen die Kruzifixe in den Schoß legte, anstatt in den Schoß eines Darstellers. Es lässt sich nur rückschließen, schriftliche Zeugnisse fehlen bislang. Des Weiteren gibt es in Italien eine große Gruppe an Kruzifixen aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die zwar seltener bewegliche Gliedmaßen, jedoch einen geöffneten Mund mit Wackelzunge besitzen. Sie alle stammen von Giovanni Teutonico oder seinem Umkreis und befinden sich zu Santa Maria Argentea (1494) und zu San Filippo Neri in Norcia, in Santa Maria degli Angeli in Pordenone, zu Santa Maria delle Grazie und zu San Francesco in Terni (jetzt Pinacoteca Comunale, Terni), zu Santa Maria in Pietrarossa44 und in der Pinacoteca Comunale zu Rimini;45 zwei weitere hängen in Santa Maria Nuova in Perugia46 sowie im Museo Comunale zu Todi (einst im Konvent von Montesanto). Letzteres besitzt nicht nur eine Wackelzunge, sondern kann auch bluten.47 Wie diese Zungen bewegt wurden, unter Umständen mittels einer Schnur, ist bislang völlig unklar.48 Da beim Kruzifix zu Santa Maria Argentea zu Norcia im Haupt Spuren von Weihrauch nachgewiesen wurden (Abb. 5), steht die These im Raum, dass, während die Figur im Sterben die Zunge bleckte, Weihrauch aus dem geöffneten Mund des Kruzifixes trat, um so die letzten Worte Christi am Kreuz zu symbolisieren (Abb. 6, 7).49 Das mag im ersten Moment befremdlich anmuten, aber es sei als Argument angeführt, dass Weihrauchschwaden gemäß Inschriften auf romanischen Weihrauchfässern mit Gebeten gleichgesetzt werden, die zu Gott aufsteigen.50 Und für Evangelienpulte ist solches – sei es quellenmäßig oder im Original – überliefert: 971 ließ sich Abt Foulques von Loche ein Lesepult mit einem Adler an der Spitze gießen. In den Körper des Tieres wurde eine Weihrauchpfanne gestellt, sodass aus dem Gefieder des Adlers Weihrauchschwaden zur liturgischen Beräucherung des Evangelienbuches traten. Im um 1150 entstandenen Lesepult aus Freudenstadt blieb ein Beispiel erhalten: Hier konnte das Weihrauchfass ins Innere gestellt werden, und der Weihrauch zog durch die Mäuler der Evangelistensymbole (Abb. 8).51 Am Ostersonntag in aller Frühe nimmt man dann eine Figur aus dem Ostergrab, die dort bereits gelegen hat: die Figur des Auferstandenen, welche zum Zeichen seiner Auferstehung auf den Hochaltar gestellt wird, wo sie bis zum Fest Christi Himmelfahrt verbleibt. Vielerorts war eine Gesellenprozession üblich, in der das Bildwerk durch die Stadt getragen wurde.52 Christi Himmelfahrt Was dann am Himmelfahrtstag vor sich ging, berichtet eindrucksvoll der Liber Ordinarius des Neuen Stifts zu Halle.53 1532 im Auftrag des Kardinals Albrecht von Brandenburg verfasst, ist seine Schilderung in ihrer Ausführlichkeit einmalig und gibt einen vollständigen Einblick in jene Riten, die in der Spätgotik allgemein üblich waren. Die Breite des Berichts liegt darin begründet, dass Kardinal Albrecht seinen damals schon legendären Reliquienschatz, das Hallesche Heiltum, in den Mittelpunkt des Geschehens stellte. Dementsprechend hatte ein Goldschmied die Festvorbereitungen zu überwachen. Ihm oblag es, die Silberfigur des Auferstandenen in der zur Auffahrt notwendigen Mandorla zu befestigen.54 Quellen, auch solche, die über das Geschehen in einfacheren Kirchen berichten, die ihrerseits Holzfiguren des himmelwärts fahrenden Salvators verwendeten, nennen die jeweilige Mandorla entweder »Regenbogen« wie in Zwickau oder »Yris« wie in Halle.55 Nach der Non (um 15 Uhr) fand eine festliche Prozession mit den 14 großen Silberplastiken des Heiltums statt, die durch Kirche und Kreuzgang zog. Vorneweg trugen Dechant und Kantor die Figur des

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