Leseprobe

17 Viele Pfarrkirchen in Sachsen reichen in das Mittelalter zurück. Zumindest die Kirchengebäude zeigen vielfach romanische und/ oder gotische Bauformen, aber das Kircheninnere vermittelt höchstens noch ansatzweise eine Vorstellung davon, wie es in einer Kirche vor der Reformation aussah.34 Zweifellos sind gerade aus den Jahrzehnten um 1500 viele Bestandteile der Kirchenausstattung erhalten geblieben,35 aber das ist gewiss nicht nur mit einer größeren Überlieferungschance dieser Ausstattungsstücke zu erklären, sondern auch damit, dass die Ausstattung der Kirchen um 1500 ungleich umfangreicher und vielfältiger war als in den vorhergehenden Jahrhunderten. Gleichwohl ging vieles verloren. Vor allem die Ausstattung mit zahlreichen Altären und anderen Bildwerken ist seit der Reformation erheblich reduziert worden. Zwar ist die Vorstellung falsch, im Bereich der lutherischen Reformation habe es einen Bildersturm oder eine systematische Beseitigung vorreformatorischer Bilder gegeben, aber die Jahrhunderte nach der Reformation haben ihre Spuren hinterlassen. Kirchen wurden im Stil der Renaissance, des Barock oder des Klassizismus modernisiert, wobei man noch bis weit ins 19. Jahrhundert wenig Rücksicht auf historische Bausubstanz nahm, sondern die Kirchen einfach durch Neubauten ersetzte.36 Wo nicht neu gebaut wurde, purifizierte man die Kirchenräume, so dass nach und nach ältere Ausstattungsstücke beiseite geräumt und in sogenannten Götzenkammern deponiert wurden.37 Erst im 19. Jahrhundert wuchs das Bewusstsein, dass das ausrangierte historische Inventar einer Kirche im Museum besser aufgehoben ist als in einer Rumpelkammer auf dem Dachboden der Kirche.38 Es bedarf heute also großer Fantasie, um die Ausgestaltung einer mittelalterlichen Kirche zu erfassen. Man könnte versuchen, durch vielfältige Quellenrecherchen die einstige Ausstattung einer Pfarrkirche zu rekonstruieren, aber das wird lückenlos kaum gelingen.39 Am günstigsten ist die Quellenlage hinsichtlich der Altäre, die ehemals vorhanden waren und auf denen im Spätmittelalter aufwendig geschnitzte oder bemalte Altarretabel standen. Mancherorts haben sich Geschichtsinteressierte auch die Mühe gemacht, Grabsteine und ihre Inschriften zu kopieren, beispielsweise der Magister Salomon Stepner in Leipzig, der zahlreiche Grabschriften kopiert hat, die später verloren gingen.40 Nur wenige künstlerisch aufwendig gestaltete Epitaphien sind in den Pfarrkirchen erhalten geblieben.41 Noch ungünstiger stand es um die Erhaltungschancen religiöser Bildwerke, die eindeutig mit vorreformatorischen Praktiken wie Heiligenverehrung oder Ablassfrömmigkeit verbunden waren. Vor diesem Hintergrund grenzt es an ein Wunder, dass sowohl hier in Chemnitz als auch in der Zwickauer Marienkirche Heilige Gräber erhalten geblieben sind. Weitgehend verloren sind auch fest mit dem Kirchengebäude verbundene Ausstattungselemente wie Wandmalerei oder Glasmalerei.42 Nach so vielen Einschränkungen und Hinweisen muss aber auch etwas positiv hervorgehoben werden: Die »bewahrende Kraft des Luthertums« ist in der Kunstgeschichte zu einem geflügelten Wort geworden,43 seit sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die Erhaltungschancen für vorreformatorische Ausstattungsstücke in evangelischen Kirchen größer war als in katholischen Gotteshäusern, wo im Zuge liturgischer Wandlungen eher neugestaltet als bewahrt wurde. Frommsein im Mittelalter bedarf der Grundlegung durch eine kirchliche Sozialisierung, die nicht nur bestimmte Verhaltensformen vermittelt, sondern durch Katechese auch Grundlagen des christlichen Glaubens legt. Was musste ein Christ wissen? Zumindest die Grundgebete des Vaterunser und des Ave Maria sowie die Grundtexte des Glaubens, nämlich das Apostolische Glaubensbekenntnis und die Zehn Gebote. Die eingangs zitierten Aufzeichnungen des Joachim von Pflummern über das religiöse Leben in Biberach vor der Reformation beginnen mit diesen Basistexten, die jeder Christ zu kennen habe: »Von Erst von dem Hayligen Christenlichen glauben, wie dann von den Hayligen zwölff Botten gesetzt ist, den Haben wüer glaubt«, dann das Vaterunser, das Ave Maria und schließlich die Zehn Gebote.44 Pflummern präsentierte Weiteres, was ein Christ wissen sollte: die Sieben Sakramente, die sechs Werke der Barmherzigkeit, die sieben Sünden gegen den Heiligen Geist, die vier Todsünden, die schweren Sünden, die Bedeutung von Reue, Beichte, Buße, Himmel, Hölle, Fegefeuer, die Verehrung der Muttergottes und der Heiligen, das Gebet für die Armen Seelen im Fegefeuer, Heiligenbilder, Gebet, Andachtsformen (Besuch der Kirchen, Teilnahme an Messen, Ämtern und Umgängen, Wallfahrten, Besuch der Kirchen vor Ort und in der Umgebung, Gebrauch von Andachtsbüchern und Andachtsbildchen, Figurenprozessionen, häusliche Andachtsorte), Papst, Heilige Messe, Heiltum (Reliquien), gute Worte und Werke, Ehrbarkeit und Leichtfertigkeit, / 3 / Gedrucktes Andachtsbild (St. Clara), um 1520/1530

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