Leseprobe

53 In der gebotenen Kürze wird in den kommenden Abschnitten durch das Kirchenjahr gegangen, um den Blick auf Forschungsdesiderata zu lenken, denn das Chemnitzer Heiliggrab ist Teil eines Festzyklus, der mit handelnden Bildwerken begangen wurde.1 Es geht um eben jene beweglichen Figuren, mit denen man das Geschehen der Kirchenfeste nacherlebte. Über die Geschehnisse informieren detailreich Stiftungsurkunden anlässlich hoher Festtage wie zum Beispiel für den Karfreitag. Reichhaltig sind auch die Schilderungen in Stadtchroniken, vor allem sakrale Spiele betreffend.2 Weitere Schilderungen enthalten Libri Ordinarii oder Breviarii (Regiebücher für den Gottesdienst). Unendlich detailreich sind jene, die am Vorabend der Reformation oder während derselben verfasst wurden. Wer in ihnen blättert, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Verfasser angesichts des Untergangs der alten Ordnung versuchten, das Althergebrachte wenigstens in Form eines schriftlichen Vermächtnisses über die Zeiten zu retten. »Christkinder« und »Kindelwiegen« Den Reigen eröffnet – gemäß kirchlichem Kalender – das Weihnachtsfest. Man läutete zur Mitternachtsmesse samt Kindelwiegen.3 Dies konnte auch zur Frühmesse stattfinden. Die Gemeinde traf sich im Chor ihrer Kirche und wiegte zu Gesängen ein Christkind. Das wurde aus der Wiege genommen und unter den Teilnehmern herumgereicht, wobei viele es küssten. Dann kam das Kindlein in seiner Wiege auf den Hochaltar, wo das Ensemble bis zum Fest Mariä Lichtmess stehen blieb. Die Verehrung solcher Christkinder fand ursprünglich in Klöstern statt, aber unter den Franziskanern und Dominikanern wurde es den Laien als Hausandachtsbild zur rechtgläubigen Erziehung angeraten.4 Folglich gehörte ein Kindlein samt Wiege und Kleidchen zur Ausstattung mancher Bürgerstochter.5 Vor diesem Hintergrund erklärt sich somit der vielerorts geübte Brauch, dass man das hauseigene Christkind samt Wiege mit in die Kirche nahm, wo dann ein kollektives Wiegen stattfand. Darüber hinaus wiegte man das Kindlein zu Weihnachten auch im privaten Kreise und sang dazu.6 Anstatt eines Wiegenkindes wurde oft ein stehendes Christkind mit Weltkugel, mit einem Vögelchen oder mit einer Weintraube in der Hand, das einen Segensgestus machte, auf den Altar gestellt und blieb dort bis zum Fest »Purificatio Mariae« (Mariä Lichtmess).7 Viele Dom- und Stiftskirchen besaßen derer zwei, wie beispielsweise die Kathedrale von Fribourg in der Schweiz: Ein Knäblein stand auf dem Altar für die Geistlichkeit, ein zweites auf dem für die Laien.8 Christkinder, vor allem auf Kissen sitzende, kamen darüber hinaus am Tag Mariä Lichtmess zum Einsatz. In einer feierlichen Prozession brachte Maria ihr Kindlein zum Tempel, das heißt zur Kirche, wo der greise Simeon und die Prophetin Hanna auf den Erlöser trafen. Ihnen war geweissagt, dass sie erst sterben durften, wenn sie den Immanuel gesehen hatten.9 Die Rollen der biblischen Figuren übernahmen, wie in Augsburg oder Padua, Kleriker, in Beverley die Mitglieder der Marienbruderschaft, oder man trug, wie in Konstanz, eine Muttergottes mit abnehmbarem Kindlein zur Kirche.10 Palmesel – Finsternmette – Kruzifixe mit beweglichen Armen Die meisten »handelnden Bildwerke« fanden jedoch zwischen Palmsonntag und Ostersonntag Verwendung. Am Palmsonntag stand die Figur eines Palmesels im Zentrum des Geschehens. In der Vita des heiligen Ulrich von Augsburg, entstanden zwischen 982 und 992, ist erstmals ein Palmesel als »effigies sedentis domini super asinum« genannt. Die Forschung stritt bislang darüber, ob die genannte »effigies« ein Bild oder eine Skulptur sei.11 Da aber der älteste erhaltene Palmesel, nämlich der aus Steinen, heute im Schweizerischen Landesmuseum in Zürich, jüngst durch die Radiocarbonmethode in die Zeit um 1055 datiert wurde, haben wir ein weiteres Argument für die Deutung besagter »effigies« in der Ulrichsvita als Skulptur (Abb. 1).12 Mit einer solchen zog man vielfach von außerhalb auf die Stadt zu.13 An der ersten Station begann die Feier mit einem Lesegottesdienst und anschließender Segnung der »Palmzweige«, meist Buchsbaum-, Wacholder- oder Weidenzweige usw. Bei der zweiten Station sang man den Hymnus Gloria laus. Der zelebrierende Priester warf sich vor der Figurengruppe nieder und wurde von einem anderen gemäß dem Gotteswort Matthäus 26,31, »Ich werde den / 1 / Palmesel aus Steinen, um 1050, Zürich, Schweize- risches Landesmuseum 1 Detail aus: Freudenstädter Lesepult / Abb. 8

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1