Leseprobe

54 Hirten schlagen, dann werden sich die Schafe der Herde zerstreuen«, rituell mit einem Zweig auf den Rücken geschlagen. Die Prozessionsteilnehmer warfen ihre gesegneten Palmen nun gegen den Esel, das sogenannte Palmenschießen. Dann zog die Prozession samt Esel weiter zur jeweiligen Kirche und sang dabei den liturgischen Wechselgesang Ingrediente Domino.14 Je nach Ort wurde der Verlauf der Prozession variiert. Man nahm zum Schluss die Zweige mit nach Hause, denn sie vertrieben die Unwetter, wenn man mit ihnen räucherte. Der Palmesel war vielfach als ganzjähriges Andachtsbild sichtbar. Er hatte in der Kirche oder auf dem Friedhof seinen »Eselsstall«.15 In der Nacht auf Gründonnerstag feierte man die Finsternmette, bei der die Glocken verstummten. An ihrer Stelle rief man nun mit Holzrätschen oder Rumpelbrettern zu den Feierlichkeiten bis Ostersonntag. Im Zentrum der Finsternmette stand ein 13- oder 15-armiger Tenebrae-Leuchter. Mit dem Ende eines jeden der sieben Psalmen des Miserere löschte man zwei der Kerzen zum Zeichen des Abfalls der Apostel von Christus. Nur die letzte Kerze, die die Muttergottes symbolisierte, löschte man nicht. Der Priester trug sie hinter den Altar oder in die Sakristei, denn Maria war nie von ihrem Sohn abgefallen. Mit dieser Kerze entzündete man dann die Osterkerze.16 In der letzten Messe des Gründonnerstags wandelte der Priester zwei weitere Hostien für den Karfreitag, denn am Karfreitag feierte er die Missa praesanctificatorum, da die Wandlung entfiel. Das Zeremoniale des Hochstifts zu Basel, niedergeschrieben zwischen 1517 und 1526 vom Domkaplan Hieronymus Brilinger, informiert nicht nur detailreich, sondern erläutert auch den theologischen Hintergrund: Am Karfreitag nimmt der Priester jene beiden bereits am Gründonnerstag gewandelten Hostien; die eine zerbricht er in drei Teile. Den dritten Teil senkt er in den Kelch »und«, wie Brilinger erläutert, »der heute nicht konsekrierte Wein wird geheiligt durch den Leib des Herrn«. Die andere Hostie jedoch legt der Priester in einen Kelch und deckt diesen mit der Patene zu. In feierlicher Prozession trägt er anschließend den Kelch mit der Hostie ins Ostergrab.17 Ursprünglich wurde die Handlung in zwei Teilen vollzogen: Man legte ein verhülltes Kreuz vor den Hochaltar zur »adoratio crucis«, enthüllte dem Kruzifix die Wundmale der Füße, und der Klerus wie die Gemeinde küssten diese. Dann folgte mit der Beisetzung des Kreuzes im Ostergrab die »depositio crucis«. Am Ostermorgen hob man zum Zeichen der Auferstehung das Kreuz aus dem Grab, die »elevatio crucis«. Oftmals wurde, wie in Hof, der sogenannte Höllensturm durchgeführt. Der Geistliche zog mit den Schülern drei Mal um die Kirche und pochte jedes Mal mit jenem Kreuz an die Kirchentür, das im Ostergrab gelegen hatte, und rief den »Teufeln«, die im Innern die Kirchentüre blockierten, zu: »Attolite portas principes vestras et domini portas aeternales et introibit rex gloriae.« Die Teufel riefen keck zurück: »Quis est iste rex gloriae«, und der Geistliche antwortete, »Dominus virtutum, ipse est rex gloriae«. Beim dritten und letzten Mal gaben sich die »Teufel« geschlagen, und die Kirche wurde »gestürmt«.18 Seit dem späten 13. Jahrhundert sind überall in Europa Kruzifixe mit beweglichen Armen in der Festtagsliturgie nachweisbar.19 Über Spanien gelangten solche Figuren in die Neue Welt, denn für Mexiko sind bislang zwei Fälle aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bekannt: aus Santo Domingo Yanhuitlan und aus Santo Domingo in Mexico City.20 Wie stark dieses Miterleben von Tod und Auferstehung Jesu Christi als Hoffnungszeichen für die eigene Auferstehung verstanden wurde, zeigt das Vermächtnis Herzog Georgs von Sachsen und seiner Gemahlin Barbara: Beide beurkunden, geleitet von dem Gedanken, dass sie auf dieser Welt keine bleibende Stätte hätten, am 23. März 1513 eine Stiftung in den Meißner Dom. Mit ihr wollte das Herzogspaar die Menschen zu einer tieferen und andächtigen Betrachtung des Leidens und Sterbens Jesu Christi anleiten und dabei deren Fürbitte für ein seliges Ableben und für eine fröhliche Auferstehung erlangen.21 Am Karfreitag wird ein großes Kreuz »cum imagine crucifixi habentis iuncturas flexibiles in scapulis« (»mit dem Bild eines Kruzifixes, welches bewegliche Gelenke in den Schultern hat«) mitten im Chor aufgerichtet.22 Zur Vesper ziehen zwei als Engel gekleidete junge Männer zum Chor, gefolgt von zwei Kanonikern und zwei Vikaren, die die Bahre mit dem Leichentuch tragen. Dieser Trauerzug kommt aus der Sakristei und hält vor dem Kreuz. Die Kleriker ziehen dem Gekreuzigten die Nägel aus den Wunden, nehmen ihn vom Kreuz ab und entfernen die Dornenkrone. Der eine Engel birgt die vier Nägel, der andere die Dornenkrone. Hernach schlägt man den toten Herrn ins Leichentuch ein, lässt dabei sein Antlitz frei, und legt ihn auf die Bahre. Engel wie Träger verharren bis zum Ende der Vesper zu Haupt und Füßen Christi. Anschließend konstituiert sich der Leichenzug, indem »Juvenes, chorales et capellani« mit brennenden Kerzen vor dem Leichnam einhergehen. Hinter diesem wird das Sakrament getragen.23 Es folgen Kanoniker und Vikare. Der Leichenkondukt tritt aus dem Chor, zieht durch dessen Umgang, dann durch die Kirche hinab zur Grablege in der Fürstenkapelle, schließlich von dort wieder zurück, »usque ad solitum ecclesiae sepulchrum«, wo die Skulptur des toten Herrn zusammen mit der Hostie beigesetzt wird.24 Eine solche Stiftung machte 1517 auch Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen für die Allerheiligenkirche zu Wittenberg: »zcu dancksagung des heylwertigen und bittern leydens unseres lieben hern und Selig- machers. Auch zcu heyl, trost und selickeit unsers gnedigsten hern des Churfürsten zcu Sachsen [...] und der ganzen Christenheit [...].«25 Da das Wittenberger Grab gemäß den Quellen ein ganz ähnliches Aussehen gehabt haben dürfte wie das Chemnitzer, sei der Wittenberger Fall ausführlicher geschildert: Ein Ausschuss, bestehend aus dem kurfürstlichen Amtmann, dem Propst von Allerheiligen, dem Rektor der Universität und dem städtischen Magistrat, wählte eine Schar von 14 Männern aus, bestehend aus Hausarmen der Stadt, Bettelstudenten und bedürftigen Schülern. Sie bekamen neue Kleider und ein Almosen. So angetan nahmen sie an den Feierlichkeiten des Karfreitags, des Karsamstags und der Osternacht im Allerheiligenstift teil. Am Gründonnerstag richtete man ein Kreuz vor dem Kreuzaltar der Stiftskirche auf, an dem das Kruzifix mit beweglichen Armen hing. Vor der Vesper des Karfreitags schlüpften vier Kapläne des Stiftes in der Sakristei in Judenkleider. Während dessen lehnte der Küster zwei Leitern an den Querbalken des Kreuzes und stellte eine Bahre bereit. Die 14 neu eingekleideten Armen zogen gemeinsam mit den vier Kaplänen zum Kreuzaltar. Zwei der Kapläne kletterten die Leitern hinauf und nahmen in den Rollen des Nikodemus und Josef von Arimathäa den Herrn vom Kreuz ab. Sie legten ihn auf die Bahre, und die vier Kapläne trugen den toten Herrn in den Chor, begleitet von den 14 Armen mit großen Kerzen in Händen. Dort stand das Ostergrab. Dem Zug hatte sich die Stiftsgeistlichkeit angeschlossen. Dann senkte man den Leib des Herrn ins Ostergrab. Er war aus Holz und konnte auseinandergenommen werden. Das Grab muss eindrucksvoll gewesen sein, denn es

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