Leseprobe

56 Der Realitätsgrad solcher Kruzifixe mit beweglichen Armen wurde häufig mithilfe von Perücken für Haupthaar und Bart gesteigert. Beispiele blieben in Bad Wimpfen am Berg, Großkochberg oder in Blankenhain (jetzt Jena, Stadtmuseum) erhalten, um nur drei zu nennen.29 Was das naturalistische Aussehen dieser Kruzifixe betrifft, kannte das Spätmittelalter scheinbar keine Grenzen. Ein wahres Wunderwerk hat sich in der Stadtkirche St. Nikolai zu Döbeln erhalten.30 Dieses Kruzifix konnte infolge lederner Gelenke nahezu sämtliche Gliedmaßen einschließlich des Kopfes bewegen, blutete aus der Seitenwunde und hatte Perücken für Haar und Bart, darüber hinaus ein textiles Lendentuch. Der Grund für diesen Realismus könnte in folgenden Fakten liegen: Die dramenartigen Szenen, welche Liturgie und handelndes Bildwerk boten, führten vielfach dazu, dass derartige Kruzifixe in Mysterienspiele integriert wurden. So geschah es 1448 in Perugia. Am Karfreitag schleppte dort Christus, dargestellt vom Barbier Eliseo de Cristofano, von der Kirche San Lorenzo aus das Kreuz in einem weiten Bogen durch die Stadt und wieder zu genannter Kirche zurück. Beim anschließend vor der Fassade von San Lorenzo aufgeführten Mysterienspiel wurde aber ein Kruzifix mit beweglichen Armen verwendet. Man kreuzigte es, und die drei Marien und Johannes klagten laut; danach nahm man es ab, legte es in den Schoß der Gottesmutter, die ihren Sohn, gleich einem lebendigen Vesperbild, heftig betrauerte. Zum Schluss setzten Nikodemus und Josef von Arimathäa den Heiland bei. Alles geschah, wie der Chronist an mehreren Stellen hervorhob, unter vielfachem Wehklagen und Weinen der Peruginer Bevölkerung.31 Wahrscheinlich haben wir in jenem Kruzifix in Döbeln eine solche Figur vor uns, die nach der Abnahme vom Kreuz dem Darsteller der Gottesmutter zur Trauer in den Schoß gelegt wurde (Abb. 2). Nimmt man das Bildwerk nämlich in den Schoß, dann fällt ihm – ganz wie bei Vesperbildern üblich – der Kopf ins Genick und die Beine klappen zu Boden. Das Döbelner Kruzifix besitzt ein 150 Jahre älteres Gegenstück im Berliner Bode-Museum. Jenes stammt aus Lucca und wurde um 1360/1370 in der Werkstatt Nino Pisanos geschaffen.32 Das Döbelner Kruzifix kann jedoch noch mehr, denn es verfügt über zwei weitere Besonderheiten: Stach man es in seine Seitenwunde, so quoll Blut (Wein?) heraus; im Rücken der Figur ist bis heute das Fach für den Behälter erhalten (Abb. 3).33 Des Weiteren ist es ein nacktes Kruzifix, das heißt sein Lendentuch war aus Stoff.34 Den Grund für beide Phänomene erhellen Textquellen: Im Dialogus Beatae Mariae et Anselmi de Passione Domini (erste Hälfte des 13. Jahrhunderts) erzählt die Muttergottes dem Anselm die Leidensgeschichte.35 Maria erfährt im Haus ihrer Schwester, der Mutter des Johannes, von der Gefangennahme Jesu. Daraufhin eilt sie zunächst zum Haus Annas, dann zu Herodes, zu Pilatus und zu Kaiphas. Dies in der Hoffnung, der Sohn werde freigelassen. Am Kreuzweg schließlich trifft sie auf den geschundenen und verurteilten Herrn, der zum Zeichen der völligen Erniedrigung das Kreuz nackt zu schleppen hat. Maria bindet ihm in ihrer Not ihren / 4 / Vesperbild mit abnehmbarem Kruzifix mit schwenkbaren Armen, um 1330, Rottweil, St. Pelagius / 5 / Giovanni Teutonico, Kruzifix, 1494, Norcia, Santa Maria in Argentea

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