57 eigenen Schleier um und wird dabei ganz vom Blut des Sohnes benetzt.36 Dieses Motiv nimmt in den Meditationes Vitae Christi des Johannes de Caulibus breiten Raum ein.37 Christus wird völlig entblößt ans Kreuz geschlagen, die Gottesmutter gibt ihren Schleier hin, um die Blöße des Sohnes zu bedecken.38 Mitreißend detailreich schildert die Vita Beate Virginis Mariae et Salvatoris rhytmica den Schmerz Mariens: Sie klagt, rauft ihre Haare, schlägt sich auf die Brust und kratzt sich mit den Fingernägeln die Wangen auf. Die Soldaten behandeln sie unwürdig und jagen sie immer wieder vom Kreuz weg. Als sie bei der Kreuzigung die Blöße ihres Sohnes sieht, löst sie ihren Schleier und bittet Maria Magdalena, einen der Soldaten zu erweichen, ihn ihrem Sohn doch umzubinden.39 In der Bordesholmer Marienklage, in der Frankfurter Dirigierrolle, in den Schauspieltexten zu Heidelberg, Alsfeld und Eger schlingt die Gottesmutter selbst ihren Schleier um die Hüften Christi, um so dessen Blöße zu bedecken.40 Bei den Kreuzabnahmen zu Bordesholm und Frankfurt wird die heilsgeschichtliche Bedeutung des Schleiers »expressis verbis« hervorgehoben: Die Jungfrau bittet Johannes, er möge ihr denselben zurückholen, weil in das Tuch Blut des Gottessohnes geflossen sei, das noch vielen Menschen zum Trost gereichen werde; ihre letzten Verse enthalten die Fürbitte, es möchten alle, die mit ihr getrauert haben, die Frucht der frommen »compassio«, das Ewige Leben, erhalten.41 Die Marienleben bereichern das Motiv um eine Szene: Maria überreicht Maria Magdalena den Schleier mit der Bitte, sie möge einen der Soldaten erweichen, ihn dem Sohne umzubinden. Doch Maria Magdalena will das nicht dulden und gibt ihren eigenen Schleier.42 All die aufgezählten Texte erklären völlig nachvollziehbar die Gestaltung des Döbelner Kruzifixes als Aktfigur: Als Mittelpunkt der Karfreitagsoffizien, beziehungsweise der dramatischen Marienklagen, benötigte man die Figur nackt, um ihr dabei im Verlauf der Handlung den Schleier der Gottesmutter umbinden zu können. Zum einen um, wie es die Texte berichten, dadurch die Schmach der Nacktheit zu tilgen. Zum anderen, weil in den Schleier jenes Blut floss, aus dem das Heil der Menschheit entspringe. In diesen Zusammenhang gehört ein bislang ungelöstes Rätsel: Sieben Vesperbilder blieben erhalten, davon zwei fragmentarisch, bei denen sich eine Christusfigur mit beweglichen Armen der Muttergottes in den Schoß legen lässt. Die fünf vollständig erhaltenen befinden sich in der Martinskapelle in Daisendorf bei Meersburg, in der Pelagiuskirche zu Rottweil (Abb. 4), in St. Martin in Bamberg (bis 1803 in der Pfarrkirche), in Watterdingen bei Konstanz sowie im Augustiner Museum in Freiburg (aus dem Münster in Radolfzell). Vier weitere existieren in Kleinpolen und Böhmen: Das älteste, aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ist das Vesperbild zu Łęki Strzyżowskie in Kleinpolen, gefolgt von jenem aus Lásenice (P 4572, Prag, National Galerie, erste Hälfte des 15. Jahrhunderts), welches möglicherweise aus dem Franziskanerkloster von Jindřichův Hradec stammt. Das dritte und vierte Beispiel sind die Vesperbilder zu Jihlava und – mit Vorsicht – dasjenige zu Cheb in Westböhmen. Der Erhaltungszustand des letzteren lässt nicht entscheiden, ob die Zweiteiligkeit der Gruppe liturgisch oder konstruktiv bedingt ist.43 Hier stellt sich die Frage, ob jeweils Marienklagen mithilfe dieser Figuren durchgeführt wurden, indem man ihnen die Kruzifixe in den Schoß legte, anstatt in den Schoß eines Darstellers. Es lässt sich nur rückschließen, schriftliche Zeugnisse fehlen bislang. Des Weiteren gibt es in Italien eine große Gruppe an Kruzifixen aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die zwar seltener bewegliche Gliedmaßen, jedoch einen geöffneten Mund mit Wackelzunge besitzen. Sie alle stammen von Giovanni Teutonico oder seinem Umkreis und befinden sich zu Santa Maria Argentea (1494) und zu San Filippo Neri in Norcia, in Santa Maria degli Angeli in Pordenone, zu Santa Maria delle Grazie und zu San Francesco in Terni (jetzt Pinacoteca Comunale, Terni), zu Santa Maria in Pietrarossa44 und in der Pinacoteca Comunale zu Rimini;45 zwei weitere hängen in Santa Maria Nuova in Perugia46 sowie im Museo Comunale zu Todi (einst im Konvent von Montesanto). Letzteres besitzt nicht nur eine Wackelzunge, sondern kann auch bluten.47 Wie diese Zungen bewegt wurden, unter Umständen mittels einer Schnur, ist bislang völlig unklar.48 Da beim Kruzifix zu Santa Maria Argentea zu Norcia im Haupt Spuren von Weihrauch nachgewiesen wurden (Abb. 5), steht die These im Raum, dass, während die Figur im Sterben die Zunge bleckte, Weihrauch aus dem geöffneten Mund des Kruzifixes trat, um so die letzten Worte Christi am Kreuz zu symbolisieren (Abb. 6, 7).49 Das mag im ersten Moment befremdlich anmuten, aber es sei als Argument angeführt, dass Weihrauchschwaden gemäß Inschriften auf romanischen Weihrauchfässern mit Gebeten gleichgesetzt werden, die zu Gott aufsteigen.50 Und für Evangelienpulte ist solches – sei es quellenmäßig oder im Original – überliefert: 971 ließ sich Abt Foulques von Loche ein Lesepult mit einem Adler an der Spitze gießen. In den Körper des Tieres wurde eine Weihrauchpfanne gestellt, sodass aus dem Gefieder des Adlers Weihrauchschwaden zur liturgischen Beräucherung des Evangelienbuches traten. Im um 1150 entstandenen Lesepult aus Freudenstadt blieb ein Beispiel erhalten: Hier konnte das Weihrauchfass ins Innere gestellt werden, und der Weihrauch zog durch die Mäuler der Evangelistensymbole (Abb. 8).51 Am Ostersonntag in aller Frühe nimmt man dann eine Figur aus dem Ostergrab, die dort bereits gelegen hat: die Figur des Auferstandenen, welche zum Zeichen seiner Auferstehung auf den Hochaltar gestellt wird, wo sie bis zum Fest Christi Himmelfahrt verbleibt. Vielerorts war eine Gesellenprozession üblich, in der das Bildwerk durch die Stadt getragen wurde.52 Christi Himmelfahrt Was dann am Himmelfahrtstag vor sich ging, berichtet eindrucksvoll der Liber Ordinarius des Neuen Stifts zu Halle.53 1532 im Auftrag des Kardinals Albrecht von Brandenburg verfasst, ist seine Schilderung in ihrer Ausführlichkeit einmalig und gibt einen vollständigen Einblick in jene Riten, die in der Spätgotik allgemein üblich waren. Die Breite des Berichts liegt darin begründet, dass Kardinal Albrecht seinen damals schon legendären Reliquienschatz, das Hallesche Heiltum, in den Mittelpunkt des Geschehens stellte. Dementsprechend hatte ein Goldschmied die Festvorbereitungen zu überwachen. Ihm oblag es, die Silberfigur des Auferstandenen in der zur Auffahrt notwendigen Mandorla zu befestigen.54 Quellen, auch solche, die über das Geschehen in einfacheren Kirchen berichten, die ihrerseits Holzfiguren des himmelwärts fahrenden Salvators verwendeten, nennen die jeweilige Mandorla entweder »Regenbogen« wie in Zwickau oder »Yris« wie in Halle.55 Nach der Non (um 15 Uhr) fand eine festliche Prozession mit den 14 großen Silberplastiken des Heiltums statt, die durch Kirche und Kreuzgang zog. Vorneweg trugen Dechant und Kantor die Figur des
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