Leseprobe

103 Von 1998 bis 2001 waren meine Kolleginnen und Kollegen Carry Bendin, Grit Stamm, Michael Lange und ich mit der Restaurierung und Wiederaufstellung des Chemnitzer Heiligen Grabes befasst. Seitdem sind über 20 Jahre vergangen. Die damaligen Arbeiten gehören mittlerweile zur Restaurierungsgeschichte des Objekts. Der heutige Zustand ist das Ergebnis dieser letzten Restaurierung. Im Folgenden soll darüber berichtet werden, aber nicht, ohne auf die Ergebnisse unserer Vorgänger und die kunsttechnologischen Besonderheiten des Heiligen Grabes einzugehen. Nicht nur unsere Arbeitsgemeinschaft trug zur Restaurierung bei. Eine entscheidende Voraussetzung für unsere Arbeit schuf das Restauratorenteam um lngolf Pönicker, welches 1995 die Voruntersuchung und erste Konservierungsarbeiten am Heiligen Grab durchführte. Obwohl zwischenzeitlich Änderungen am Restaurierungskonzept vorgenommen wurden, war doch deren Dokumentation über die 153 demontierten Einzelteile für uns ein unentbehrliches Arbeitsmittel. Darstellung und Funktion Es gab verschiedene Formen von Heiligen Gräbern, die von eigenständigen Gebäuden wie dem Nachbau der Grabeskapelle von Jerusalem in Görlitz über verschiedene Formen von Grabeskapellen innerhalb größerer Kirchen1 bis hin zu transportablen Häuschen und Schreinen reichten. Sie dienten in der Regel der liturgischen Ausgestaltung der Karwoche oder zusätzlich zur Aufbewahrung beziehungsweise Ausstellung des Leibes Christi in Form einer konsekrierten Hostie. Vom Hochmittelalter bis zur Reformation – und in katholischen Regionen natürlich auch darüber hinaus – wurden Zeremonien durchgeführt, die die szenische Nachstellung der biblisch überlieferten Ereignisse um Kreuzigung und Auferstehung Christi umfassten. Das Heilige Grab aus der Jakobikirche Chemnitz gehört zu diesem Typ hölzernen liturgischen Geräts. Das Passionsspiel wurde hier möglicherweise sogar mithilfe einer beweglichen Christusfigur durchgeführt. Solche Figuren konnten aufgrund ihrer beweglichen Gliedmaßen sowohl am Kreuz befestigt als auch als Leichnam aufgebahrt werden. Ein vergleichbares Objekt blieb, ohne Grab, in der St. Nikolaikirche zu Döbeln in Form des sogenannten Mirakelmanns erhalten.2 In Stuttgart und Wienhausen finden sich hingegen Figuren, die einen liegenden Christusleichnam ohne bewegliche Gliedmaßen darstellen.3 Hier wurden möglicherweise für Kreuzabnahme, Grablegung und Auferstehung verschiedene Figuren verwendet. Beide Varianten, eine bewegliche oder mehrere Figuren, sind auch beim Heiligen Grab aus Chemnitz denkbar. Ein armloser Torso einer Christusfigur wird in der Sammlung des Schloßbergmuseums aufbewahrt. Die Zugehörigkeit zum Heiligen Grab wird aufgrund stilistischer Merkmale vermutet. Beim Heiligen Grab in Chemnitz könnte man also von einer überdachten Tumba sprechen. Auf einem mit Grabwächterreliefs geschmückten Sockel lag sehr wahrscheinlich die Darstellung des toten Jesus. Er wurde durch ein auf acht Pfeiler gestütztes Dach beschirmt, dessen Innenseite ein Sternenhimmel schmückt. Die Freiräume zwischen den Säulen sind mit Maßwerkfeldern verschlossen, die im unteren Teil an gotische Fenstergestaltungen erinnern und im oberen Teil in krabbenbesetzten Kielbögen mit Kreuzblumen und Sprengwerk enden. Vor den Maßwerkfeldern stehen auf weit ausladenden Konsolen vollplastisch geschnitzte Skulpturen, welche die Heiligen Nikodemus, zwei Marien mit Salbnapf – Jesu Mutter und Jesu Tante, Maria des Kleophas –, dazwischen Josef von Arimathäa, einen Engel und Maria Magdalena zwischen Johannes dem Evangelisten und Petrus darstellen. Das Gehäuse lässt sich zum Hineinlegen der Christusfigur an einer Stirnseite öffnen. Dazu musste eine der genannten Figuren heruntergenommen werden. Welche es war, ist nicht überliefert, weil die ursprünglichen Standorte wegen fehlender beziehungsweise ergänzter Konsolen nicht mehr rekonstruiert werden können. Weiterhin stand der Sockelkasten wenigstens zeitweise offen oder konnte geöffnet werden, da eine Stirnseite des lnnenkastens ergänzt wurde und ein Grabwächterrelief fehlt.4 Dieser sekundär eingerichtete Stauraum ermöglichte vielleicht das Verbergen der Leichnamfigur für den Rest des Jahres oder am Ostermorgen (Abb. 1). / 1 / Prospekt für die Ausstellung des Königlich Sächsischen Altertumsvereins, Stich von 1867, idealisierte Darstellung, fehlende Teile wurden vervollständigt 1 Detail aus: Zwei Eckpfosten / Abb. 1 7

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