13 Die anschaulichste und ausführlichste Schilderung des Kirchen- und Frömmigkeitslebens einer Stadt im ausgehenden Mittelalter ist für Biberach in Oberschwaben überliefert (Abb. 1). Unter dem Eindruck der Reformation, die in Biberach 1530 Einzug hielt, schrieb der Patrizier und Ratsherr Joachim I. von Pflummern ausführlich auf, wie sich das kirchliche Leben bislang abgespielt hatte, nun aber der Vergangenheit angehörte.1 Besonders detailliert und umfangreich ist die Beschreibung der Karwoche und des Osterfestes. Ich greife den Karfreitag heraus, der nach den Angaben Joachim von Pflummerns frühmorgens mit einer mehrstündigen Predigt über das Leiden und Sterben Jesu begann. Dann folgten Amt und Vesper. Nachdem die Altaristen und Schüler das Kreuz in die Kirche getragen und vor dem Mittelaltar niedergelegt hatten, folgte die Kreuzanbetung zunächst durch den Pfarrer und die weiteren Geistlichen, dann durch die Gläubigen. Anschließend wurde ihnen das Altarsakrament gereicht. Dann schreibt Joachim von Pflummern »vom heiligen Grab«: »Neben dem Kreuz beim Frauenstüehelin ist gesein ein hübsch gemaltes, verguldts Grab. Da ist der Herrgott gelegen, verdeckt mit einem dünnen Tuoch, daß man unsern Heiland hat sehen können. Das Grab ist vergittert gesein. Es sind auch gewappnete Juden daran gemalen gesein. Neben dem Grab sind von Bürgern und von den Zünften die großen Kerzen gesteckt gesein und haben Tag und Nacht brunnen. Zu beiden Seiten unten und oben sind Schüler gesessen, haben Lesepulte und Psalterbücher vor ihnen gehabt. Daraus haben sie Tag und Nacht wider einander Psalmen gesungen und nimmer aufgehört, man habe denn sonst etwas in der Kirchen ton, bis unser Herrgott erstanden ist. Es ist auch ein Becket beim Grab gestanden, darein hat man für die armen Schüler, die gesungen, um Gottes Wille Geld gelegt. Was auch reiche Leut und Burger sind gesein, die haben den Schülern etwas zu essen und trinken gebracht. Man hat auch das Sakrament in dieses Grab gehenkt, um es anzubeten. Wenn der Herrgott erstanden ist, da hat man es wieder in das Sakramentshaus geton. Die Leute haben vil Lichtlin vor dem Grab brennt, sind niederkniet und haben mit Andacht viel da betet.«2 So verging der Karfreitag mit verschiedenen Andachtsübungen, bis am späten Nachmittag zur Beweihräucherung des Heiligen Grabes eingeladen wurde (»Von der Röche beim Grabe«): »Da sind die Priester mit dem Kreuz aus dem Chor heraus zum Grab gangen, haben da geröcht und das Placebo betet. Ist der Bürgermeister und andere Bürger auch andere Leut hinfür gestanden zur Röche.«3 Was können wir aus dieser kurzen Beschreibung für die Frömmigkeitspraxis lernen? Zunächst einmal, dass es für den Ablauf der Festtage bestimmte verbindliche Vorgaben durch die kirchliche Liturgie gibt, wozu Messfeier und Predigt, aber auch Kreuzverehrung und Totenvesper gehören.4 Innerhalb dieses Rahmens konnte weiteres an Andachtsübungen hinzukommen, denn wenn ein Heiliges Grab vorhanden war, wie in Biberach, dann konnte man am Grab Gebetswache halten und Christus selbst in Gestalt des Altarsakraments dort zur Verehrung aussetzen. Die Schüler der Stadtschule wachten stellvertretend am Heiligen Grab, indem sie ununterbrochen im Wechselgesang die Psalmen beteten. Dieser kirchliche Dienst der Schüler war alles andere als ungewöhnlich, denn sofern es in einer spätmittelalterlichen Stadt eine Schule gab, war es selbstverständlich, dass die Schüler für den Gesangsdienst in der Kirche ausgebildet wurden und als »schola« fungierten.5 Das sind die spätmittelalterlichen Wurzeln der »schola Thomana« in Leipzig oder der »schola Crucis« in Dresden.6 / 1 / Biberach, Pfarrkirche St. Martin, Außenansicht 1 Detail aus: Männer rechts – Frauen links / Abb. 11a
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