Leseprobe

14 Bereits mit dem Kirchendienst der Schüler erfassen wir ein Element der Verflechtung von Kirche und Welt vor der Reformation, die so selbstverständlich war, dass wir hier eigens darauf hinweisen müssen. In diesem Zusammenhang fällt Weiteres in der Schilderung des Joachim von Pflummern auf: Beim Heiligen Grab stand ein Sammelbecken, in dem die Gläubigen Geldspenden für die Schüler hinterließen, die dort die Psalmen sangen. Reichere Bürger brachten den Schülern zudem etwas zu essen und zu trinken. Neben dem Heiligen Grab brannten zudem pausenlos große Kerzen, die von Bürgern und von den Zünften (= Handwerksinnungen) aufgestellt wurden. Weitere Leute entzündeten vor dem Heiligen Grab Kerzen und beteten dort. Als am Nachmittag die Totenvesper am Heiligen Grab gesungen wurde, waren der Bürgermeister und weitere Bürger anwesend. Dies alles wird man nicht als Beleg für die besondere Frömmigkeit der Biberacher zu betrachten haben, sondern es zeigt, dass das kirchliche Leben immer eine Komponente des öffentlichen Lebens und der sozialen Ordnung ist. So erscheinen der Bürgermeister und die Zünfte mit ihren Kerzen als besonders herausgehoben am Heiligen Grab. Einige reiche (und gewiss besonders angesehene) Bürger versorgten die Schüler, die am Heiligen Grab sangen, mit Speis und Trank. Darüber hinaus war das Heilige Grab aber ein öffentlicher Andachtsort, wo nicht nur die städtische Elite, sondern die »Leute« kamen, um Kerzen zu entzünden und zu beten. Nur am Rande sei angemerkt, dass Martin Luther 1530 in seiner »Vermahnung an die Geistlichen auf dem Reichstag zu Augsburg versammelt« genau die hier beschriebenen Frömmigkeitspraktiken wie das Küssen und Verehren des Kreuzes oder das Singen des Psalters am Grabe genannt hat, die er skeptisch betrachtete, freilich nicht pauschal verdammte.7 Der Kirchenhistoriker Bernd Moeller (1931–2020) hat schon vor Jahrzehnten einmal plakativ bemerkt, die Jahrzehnte um 1500 seien eine der »kirchenfrömmsten Zeiten des Mittelalters« gewesen.8 Moeller war in den 1960er Jahren einer der ganz wenigen Kirchenhistoriker (übrigens evangelischer Konfession), die sich eingehend mit dem kirchlichen Leben vor der Reformation beschäftigt haben. Für die meisten evangelischen Kirchenhistoriker hingegen bildeten die spätmittelalterlichen Frömmigkeitspraktiken zumeist nur den düsteren Hintergrund, von dem sich die Reformation dann umso leuchtender abhob. Auch für Kirchenhistoriker katholischer Konfession war das kirchenfromme Leben vor der Glaubensspaltung nicht wirklich ein Thema. Päpste und Konzilien, Ordens- und Klostergeschichte, das stand im Mittelpunkt des Interesses, nicht der kirchliche Alltag der Gläubigen. Das war nicht nur ein Problem der Kirchen-, sondern ebenso der sogenannten Profangeschichte. Die meisten Historiker des Mittelalters (Landeshistoriker eingeschlossen) interessierten sich bis vor wenigen Jahrzehnten nicht für Frömmigkeitsgeschichte und das, was wir heute als den kirchlichen Alltag der Menschen bezeichnen würden. Dabei sei einem Missverständnis gleich vorgegriffen: Wenn von kirchlichem Alltag oder alltäglicher Frömmigkeit die Rede ist, so ist damit keineswegs nur der Alltag des Volkes, also breiter Schichten gemeint, sondern ebenso der Alltag von Fürsten und Patriziern, von Bischöfen und Domherren. Wer sich bis in die 1980er Jahre mit der Frömmigkeit des späten Mittelalters beschäftigen wollte, musste auf ältere Darstellungen wie das Buch von Ludwig Andreas Veit (1879–1939) über volksfrommes Brauchtum und Kirche im Mittelalter von 1936 zurückgreifen.9 Ein Wandel in der Betrachtung der vorreformatorischen Zeit, die bis dahin nur die düstere Folie für das Morgenrot der Reformation abzugeben hatte, setzte Anfang der 1980er Jahre ein. Als Initialzündung ist wohl die große Ausstellung »Martin Luther und die Reformation in Deutschland« anzusehen, die 1983 vom Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg ausgerichtet wurde und an der maßgeblich der bereits erwähnte Kirchenhistoriker Bernd Moeller und der Mittelalterhistoriker Hartmut Boockmann (1934–1998) beteiligt waren.10 Vor allem Boockmann legte nun zahlreiche Studien zur vorreformatorischen Frömmigkeitsgeschichte vor, in denen er neben den Schriftquellen auch immer wieder bislang unbeachtete Bildzeugnisse und Realien zum Sprechen brachte, was in der damaligen geschichtswissenschaftlichen Forschungspraxis neu war.11 Über das Göttinger Graduiertenkolleg »Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts« gelang es Boockmann, Moeller und anderen auch, durch eine Reihe von Dissertationen Forschungslücken zu schließen.12 Der Bielefelder Mittelalterhistoriker Klaus Schreiner (1931–2015) eröffnete vor allem durch sozialgeschichtliche Ansätze bei der Erforschung der Frömmigkeitsgeschichte des späten Mittelalters neue Perspektiven.13 Der österreichische Mediävist Peter Dinzelbacher hingegen rezipierte vor allem mentalitätsgeschichtliche Ansätze der französischen Annales-Schule.14 Die hier nur sehr knapp skizzierte Öffnung der Mittelalter- und Landesgeschichtsforschung zur Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte wirkte auch auf die Kirchen- und Theologiegeschichte zurück, wie vor allem an den Arbeiten führender katholischer und evangelischer Kirchenhistoriker wie Arnold Angenendt (1934–2021)15 und Berndt Hamm16 ablesbar ist, denen wegweisende Forschungen zum späten Mittelalter wie zur Reformationszeit zu verdanken sind. Nach der deutschen Wiedervereinigung wurden diese vielfältigen Impulse dann auch in den neuen Bundesländern aufgegriffen, in denen die Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte des Mittelalters, insbesondere der vorreformatorischen Zeit bis in den 1990er Jahre weitgehend Terra incognita blieben.17 Die große Ausstellung »Alltag und Frömmigkeit«, die maßgeblich von Hartmut Kühne konzipiert wurde und an der ich mitgewirkt habe, stellt eine wichtige Wegmarke dar.18 Hier muss aber auch von regionalen Initiativen die Rede sein, beispielsweise von der Ausstellung »Des Himmels Fundgrube«, die 2012 hier im Schloßbergmuseum Chemnitz zu sehen war,19 oder einer Ausstellung über die Reformation in Arnstadt und Umgebung 2017/18, die ebenfalls den vorreformatorischen Verhältnissen einige Aufmerksamkeit schenkte.20 Ein Kernproblem der vorreformatorischen Frömmigkeit, das Ablasswesen, wurde von Hartmut Kühne, Peter Wiegand und mir in einem umfangreichen Band über den Leipziger Dominikaner und Ablassprediger Johann Tetzel untersucht.21 Mitteldeutschland gehört mittlerweile zu den frömmigkeitsgeschichtlich besterforschten Regionen in Deutschland, was nicht nur im Vergleich mit den konfessionell stärker katholisch geprägten Landschaften bemerkenswert ist. Im Rheinland hat man sich lange Zeit lieber mit den Kirchenschätzen der Romanik beschäftigt, gerade im Heiligen Köln,22 und in Altbayern spiegelte die reich ent-

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