15 faltete Frömmigkeit des Barock eine Glaubenswelt, vor der die praxis pietatis früherer Jahrhunderte zu erblassen schien.23 Nun stehen wir hier in Chemnitz vor dem Heiligen Grab, einem Monument der Frömmigkeitsgeschichte der Zeit um 1500, und wollen es verstehen. Der Blick der Fachleute wird sich auf das Denkmal selbst richten und so vieles erkennen und erklären. Aber das Heilige Grab stand als Teil der Kirchenausstattung der Pfarrkirche St. Jakobi in Chemnitz nicht für sich, sondern hatte seine Funktion in einem größeren Zusammenhang, den wir als »praxis pietatis« bezeichnen können. Der Begriff »praxis« verweist auf »Tätigkeit«, »Handlungsweisen« im Rahmen der Frömmigkeit.24 Was ist eigentlich Frömmigkeitsgeschichte? Sie ist mehr als Kirchengeschichte, wie sie vor allem von Vertretern der großen christlichen Bekenntnisse betrieben wird. Dabei geht es um die Frage, was Kirche eigentlich ist, welche Glaubensinhalte ihre Theologie ausmachen und wie sie diese vermittelt. Kirchengeschichte bewegt sich dabei gerne auf den Höhenkämmen theologischer Ideen und ihrer Vordenker, blickt auf die verfasste Kirche in Gestalt des Papsttums, der Bischöfe und Konzilien. Nur selten reicht der Blick hinab bis auf die Ebene der Pfarreien, in denen sich allerdings der Alltag der Christen vollzieht. Als Historiker hat es mich immer wieder überrascht und irritiert, wie wenig sich die Kirchengeschichte eigentlich für die Gemeinden, die einfachen Gläubigen und ihren kirchlichen Alltag interessiert hat. Hier setzt nun die Frömmigkeitsgeschichte an, für die ich auch gerne den Begriff der »praxis pietatis« verwende, um diese der Theologie als gedachten Glauben gegenüberzustellen. Theologie- und Kirchengeschichte zielen auf die Frage, was die Menschen glauben (oder glauben sollen), Frömmigkeitsgeschichte hingegen zielt auf die Frage, wie die Menschen glauben. Kein Wunder, dass sich für die »praxis pietatis« von jeher weniger die Theologie- und Kirchenhistoriker zuständig fühlten, sondern vielmehr Historiker und Kunsthistoriker (früher hätte ich in diesem Zusammenhang auch die Volkskundler genannt, die aber für die Erforschung vergangener Frömmigkeitskulturen keine Rolle mehr spielen).25 Denn die Frage, wie die Menschen glaubten, lässt sich aus unterschiedlichen Perspektiven beantworten: Es geht um den Alltag der Menschen und ihre Lebenswelten, die sich in der Schnittmenge von Kirche und Welt bewegen; es geht um kollektive und individuelle Praktiken und Handlungsweisen, die von »Sitte« und »Brauch« bestimmt wurden;26 es geht um die Nutzung von Bildern und Bildzeugnissen, die Glaubensinhalte nicht nur darstellen, sondern handelnd nachvollziehbar machen. Der berühmte Soziologe Niklas Luhmann (1927–1998) hat einmal treffend bemerkt, es gäbe in unserer Zeit immer weniger nichtreligiöse Gründe, religiös zu sein.27 Die Folgen sind äußerlich an der Kirchenmitgliedschaft ablesbar. Kürzlich wurde gemeldet, dass nicht einmal mehr 50 Prozent der deutschen Gesellschaft einer der großen Kirchen angehören. Noch in den 1950er Jahren waren hingegen weit über 90 Prozent der Deutschen in Ost und West Mitglied einer der Großkirchen.28 Ob sie auch alle praktizierende Christen waren, sei hier dahingestellt. Ich möchte mit diesen Zahlen auf etwas anderes hinweisen: Für die Vormoderne, also das Mittelalter und die Frühe Neuzeit, war nicht nur die Kirchenmitgliedschaft ganz selbstverständlich, sondern auch die religiöse Praxis. Der religiöse Alltag der Menschen war bis in das 18. Jahrhundert durch Teilhabe am kirchlichen Leben geprägt. Die »praxis pietatis« durchdrang das gesellschaftliche Leben, und je überschaubarer die jeweilige Lebenswelt der Menschen war, desto unausweichlicher war es, an Gottesdiensten, liturgischen Feiern, Bruderschaften, Prozessionen und Wallfahrten teilzunehmen. Wer beispielsweise einer Handwerkszunft angehörte, nahm nicht nur an den geselligen Treffen teil, sondern auch an den Gottesdiensten, Prozessionen und Begängnissen von Zunftmitgliedern. Erst die Bewegung der Aufklärung hat im 18. Jahrhundert andere Einstellungen gefördert und es denkbar und möglich gemacht, sich anders zu verhalten als die Mehrheitsgesellschaft. Bis dahin gab es eben, um nochmals Luhmann aufzugreifen, auch nichtreligiöse Gründe, religiös zu sein, wobei man in diesem Zusammenhang nicht einseitig die gesellschaftlichen Zwänge, Herkommen (»Sitte und Brauch«) und nachbarschaftliche Kontrolle im Blick haben sollte, sondern auch die im positiven Sinne tragende Rolle von Religiosität. Man denke nur an die entlastende Rolle von Beichte und Buße, an die Hilfe durch fromme karitative Stiftungen oder die Rolle der Heiligen als Vermittler und Fürsprecher zwischen Gott und den Menschen in Krankheit und Not. Zudem müssen wir noch eines in Rechnung stellen, auch wenn es sich für den Historiker kaum messen und gewichten lässt: dass die Menschen der Vormoderne tatsächlich fromm waren und an Gott geglaubt haben. Gewiss hat es auch in der vormodernen Gesellschaft Menschen gegeben, die nicht glauben konnten oder wollten oder die deviante »religiöse« Ansichten vertreten haben, aber das waren im Mittelalter wie in der Frühen Neuzeit stets nur Einzelfälle.29 Aus heutiger Sicht mag manchen gerade dieses abweichende Verhalten relevant erscheinen, weil es »modern« anmutet, aber wir versperren uns den unbefangenen Blick auf die vormodernen Jahrhunderte, wenn wir die Menschen in ihrer Glaubenshaltung nicht ernst nehmen. Im Gegensatz zur früheren Forschung wird heute die »praxis pietatis« der Menschen des ausgehenden Mittelalters stärker in ihren lebensweltlichen Zusammenhängen gesehen. Das »Frommsein« wurde ja nicht individuell praktiziert, indem man die Kirche seiner Wahl aufsuchte, einen persönlichen Lieblingsheiligen verehrte oder durch Pilgerfahrten aus den alltäglichen Lebenszusammenhängen ausbrach. Den Spielraum persönlicher Frömmigkeit begrenzte zunächst die eigene Stadt beziehungsweise für die Masse der Bevölkerung um 1500 das eigene Dorf, und in Stadt wie Land war der primäre Ort des kirchlichen Lebens die eigene Pfarrkirche, an die jeder Christ nach dem Wohnortprinzip durch den Pfarrzwang gebunden war.30 In der Ausstellung über »Alltag und Frömmigkeit« in Mitteldeutschland haben wir deshalb die Pfarrei zum Ausgangspunkt der Darstellung gewählt und daran dann weitere Aspekte angeschlossen. Die Pfarrei war die Institution und Lebensform, in der die allermeisten Gläubigen in ihrem Alltag mit der Amtskirche in Berührung kamen, ob sie wollten oder nicht. Die Pfarrei und der damit verbundene Pfarrzwang sorgten dafür, dass die Gläubigen dort die Pflichtgottesdienste an Sonn- und Feiertagen besuchten, das Altarsakrament empfingen, die Beichte ablegten, dort die Ehe einsegnen ließen. In der Pfarrkirche wurden die Neugeborenen getauft, um die Pfarrkirche herum auf dem Kirchhof wurden die
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