Leseprobe

19 Blicke auf die deutsche Filmgeschichte WEIMARER REPUBLIK Mit dem Film der Weimarer Republik gewann die deutsche Kinematografie durch ihre ästhetischen Innovationen internationalen Einfluss. Der expressionistische Film erlebte dabei eine zwar kurzlebige Konjunktur, die aber Furore machte, insbesondere Das Cabinet des Dr. Caligari (1920, Robert Wiene) wurde auch im Ausland rezipiert. In einer an der bildenden Kunst geschulten Bildsprache verarbeiteten expressionistische Filme – aber auch eine Reihe anderer Titel aus der Weimarer Republik – das Trauma des Weltkriegs. Regisseur:innen wie Lotte Reiniger, Ernst Lubitsch, Friedrich Wilhelm Murnau, Fritz Lang und Georg Wilhelm Pabst definierten das Genre der Komödie und den Historienfilm neu oder erschufen erste Beispiele für abendfüllende Animationsfilme (Die Abenteuer des Prinzen Achmed, 1926, Lotte Reiniger), den Horrorfilm (Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens, 1922, Friedrich Wilhelm Murnau), das Science-Fiction-Genre (Metropolis, 1927, Fritz Lang) oder den sozialkritischen Film der Neuen Sachlichkeit (Die freudlose Gasse, 1925, Georg Wilhelm Pabst). Mit Berlin. Die Sinfonie der Großstadt (1927) schuf Walther Ruttmann einen Klassiker des dokumentarischen Kinos. Seine Montage erschuf das Bild eines Tages in der großen Stadt, gewonnen oft durch unbeobachtete Aufnahmen in den Straßen Berlins, die Robert Baberske mit seiner handlichen Kamera vom Typ Kinamo festhielt. Mit dem Bergfilm schufen Arnold Fanck und seine Kameraleute, die sogenannte Freiburger Schule, ein Genre, in dem die sportlichen Leistungen der Skifahrer und Bergsteiger ohne Rückgriff auf Stunts in der realen Bergwelt erreicht und von den Operateuren, die selbst als Ski-Asse und Bergsteiger reüssierten, aufgenommen wurden. Leni Riefenstahl wurde zum weiblichen Star in dieser Männerwelt, so in Die weiße Hölle vom Piz Palü (1929, Arnold Fanck/Georg Wilhelm Pabst). Die wirtschaftliche Krise und die Verarmung proletarischer Kreise porträtierten Beispiele des linken sozialkritischen Films, wie Phil Jutzis Mutter Krausens Fahrt ins Glück (1929) und Slatan Dudows Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt? (1932). Diese Filme wurden teils on location aufgenommen, was zum Authentizitätseindruck ebenso beitrug wie der Verzicht auf bekannte Stars. Der technische Umbruch, den die Einführung des Tonfilms brachte, hatte krisenhafte Auswirkungen auf die Filmindustrie. Die notwendigen Investitionen der Produktionsgesellschaften, die nun neue schallgedämmte Kameras und Studiobauten benötigten, wie auch der Kinos, die auf neue Apparaturen umstellen mussten, fielen zudem in die Hochzeit der Weltwirtschaftskrise. Viele Firmen mussten Insolvenz anmelden, der Kinobesuch ging stark zurück. Es dauerte einige Jahre, bevor die Publikumszahlen wieder das Vorkrisenniveau erreichten. Ästhetisch aber meisterten Regisseur:innen des deutschen Films den Übergang und entwickelten dabei unterschiedliche Lösungen. Fritz Langs M (1931), eine Story um einen Kindermörder, der an einer von ihm gepfiffenen Melodie – aus der Peer-Gynt-Suite Nr. 1 von Edvard Grieg – erkannt wird, ist dafür ein frühes herausragendes Beispiel. Die von Peter Lorre gespielte Hauptfigur erweist sich als schwer traumatisiert, was Interpretationen ermöglichte, die seine Verfassung als Folge seiner Weltkriegserfahrung deuteten. Auf andere Weise bezog sich Georg Wilhelm Pabst in Kameradschaft (1931) auf den Weltkrieg: Nach einem Grubenunglück in einer französischen Zeche eilen auch deutsche Bergarbeiter den Kumpels dort zu Hilfe und durchbrechen auch unter Tage die selbst dort markierte Grenze. Neben solchen Formen des Realismus (Fritz Langs Film war deutlich von der Überführung des Düsseldorfer Serienmörders Peter Kürten inspiriert) fand die deutsche Filmindustrie, und hier vor allem die UFA, die mit dem Tonkreuz bereits 1929 ein vollständig auf den Tonfilm hin konzipiertes Atelier errichtet hatte, auch Lösungen für unterhaltsame Genres, die sich fantasievoll der neuen Technik stellten. Mit der Tonfilmoperette fand die UFA ein höchst erfolgreiches Muster, das in ironisch gebrochener Anlage auch auf die reale Krise einzugehen vermochte, wie dies Die Drei von der Tankstelle demonstrierte (1930, Wilhelm Thiele). Das Genre wurde ganz wesentlich von deutsch-jüdischen Künstler:innen geformt, vom Produzenten Erich Pommer über die Komponisten Werner Richard Heymann und Friedrich Hollaender bis zu den Regisseuren Wilhelm Thiele, Hanns Schwarz oder Ludwig Berger. Der Esprit dieser Titel machte sie auch im Ausland populär – gedreht wurden »Versionen«, vor allem in Französisch, oft auch auf Englisch: dieselbe Story, in den identischen Kulissen, von einem anderen Team in einer anderen Sprache realisiert. Lilian Harvey aber, die dreisprachig agieren konnte, spielte in allen Fassungen, mit jeweils neuen Partnern. Filmplakat zu Nosferatu. Eine Symphonie des Grauens, 1922 von Albin Grau

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