30 Wie mag das gewesen sein, als die Bilder laufen lernten? Als die »lebenden Bilder« das Publikum der frühen Kino- und Wanderbühnen anlockten und die Jahrmärkte sie als neue Sensation anpriesen, ähnlich wie sie es zuvor für die schwebende Jungfrau oder den stärksten Mann der Welt getan hatten? Auf Fotografien und Filmaufnahmen aus der Zeit des späten 19. Jahrhunderts sieht man fesch gekleidete Jahrmarktsbesucher:innen, die Plakate zu Bewegtbildvorführungen studieren, unter ihnen aufgekratzt wirkende Kinder, die sich offensichtlich ganz besonders für den Elektro-Biografen interessieren. Womöglich hatten sie bereits von den Erwachsenen mitbekommen, dass es kürzlich erste projizierte Bewegtbilder in den europäischen Metropolen gegeben hatte: in Paris, wo die Brüder Louis und Auguste Lumière im Indischen Salon des Grand Café am 28. Dezember 1895 eine Vorführung gaben, die als die erste öffentliche Filmvorführung Frankreichs vor einem zahlenden Publikum gilt, oder wenige Wochen zuvor in Berlin, als Max und Emil Skladanowsky am 1. November 1895 DAS WINTERGARTENPROGRAMM In den Filmen des berühmten Wintergartenprogramms vom November 1895 spürte man davon eher wenig. Die kurzen Bewegtbildfolgen, aufgezeichnet von einer längst noch nicht »entfesselten« Kamera, präsentierten statische Szenen aus dem Milieu der Gaukler:innen, Artist:innen und Schausteller:innen, wie man sie vom Jahrmarkt her kannte. Feierlich wurde eine Folge von Impressionen dargeboten, bei denen der Inhalt im Hintergrund stand und es vor allem darum ging, dass sich hier etwas oder jemand bewegte. In heutiger Wahrnehmung muten die kleinen Filme fast schon unaufgeregt und sachlich, minimalistisch, sogar abstrakt und experimentell an. Eingeleitet wurden die Wintergartenszenen jeweils durch Schrifttafeln, wie man sie ähnlich von jenen Bänkelsänger:innen her kannte, die Jahrhunderte lang über Jahrmärkte, Marktplätze und Kirchweihfeste zogen und mit einem Stock auf eine Bildertafel deuteten. So folgen auf die Tafel Kindergruppe Ploetz-Larella. Italienischer Bauerntanz Schritte, Sprünge und Bewegungen eines Kinderpaars in folkloristischer Kleidung. Brothers Milton. Komisches Reck präsentiert die artistische Darbietung zweier clownesk kostümierter Hochreck-Turner. Mr. Delaware. Boxendes Känguruh zeigt einen bärtigen »Gladiator« im Kampf mit einem aufrechtstehenden, Boxhandschuhe über den Pfoten tragenden Beuteltier. Es folgen noch mehr Akrobatik, Artistik und Kampfgerangel, bevor Mll. Ancion. Serpentintänzerin in wallendem Gewand und mit ausladenden Körperbewegungen ein poetisches Highlight setzt und sich abschließend die Brüder Skladanowsky höchstselbst von der Leinwand herab vor ihrem Publikum verbeugen. Angekündigt werden die betont seriös auftretenden Herren mit dem unbescheidenen Schlagwort »Apotheose« – war die frühe Bilderschau gar als Verherrlichung und Verklärung des Menschen zu (filmenden) Halbgöttern gedacht? Das Berliner Wintergartenprogramm gilt als die erste Präsentation von Bewegtbild auf einem filmähnlichen Träger. So hüftsteif die frühen Bewegtbilder heute anmuten: Der Siegeszug des Films als Massenmedium war ab da nicht mehr aufzuhalten. Ebenso wenig wie der des Kinos: Vielleicht spürte das Publikum intuitiv schon damals, dass Kino von Anfang an mehr war als nur Film, nämlich ein Ort, an dem man einen Film gemeinsam mit anderen Menschen schaute und ihn in der Gemeinschaft nahezu körperlich erlebte. Die Jahrmarkts- und Wanderkinos hatten bis ums Jahr 1908 ihre Blütezeit, wobei die Zelte und Filmbuden der Wanderkinematografen stets größer, auffälliger und spektakulärer wurden. Den Ruch des Unkontrollierbaren, der vor allem kirchliche und pädagogische Institutionen immer wieder neu empörte, wurden sie freilich nie so ganz los – Anzeige für die erste Aufführung des Wintergartenprogramms 1. November 1895 Berliner Lokalanzeiger im Varietétheater Wintergarten ihren Projektionsapparat Bioskop vorstellten. Guido Seeber, Fotograf, Kameramann und selbst einer der großen Filmpioniere, resümierte 1930 rückblickend in einem Aufsatz im Film-Kurier: »Es dürfte auf der ganzen Welt nur wenige Industrien gegeben haben, die so schnell zu einer Weltindustrie geworden sind, wie die des Films.«1 Tatsächlich war es die große Zeit der Entdeckungen und Erfindungen, des permanenten Wettkampfs von Mensch und Maschine: Die Welt schien förmlich vom Geschwindigkeitsfieber befallen, man begeisterte sich ebenso für sensationelle Rekorde wie für schnelle Flugzeuge und rasende Untergrundbahnen, spektakuläre Fahrrad- und Autorennen, technologisches »Spielzeug« wie die ersten Autos, die schon bald zu Tausenden vom Fließband liefen – und man stürzte sich auf den neuen Film, der perfekt in die Zeit passte. Für Seeber war es eine typische Eigenschaft des Films, »alles in einer gewissen Hast, einer gewissen Unruhe und einem gewissen Tempo vor sich gehen zu lassen«.2
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