Leseprobe

31 Der Frühe Film 1895–1918 doch womöglich war es ja genau dieser »Kick des Pikanten«, der die wachsende Schar der Filmbesucher:innen anzog und sie zu leidenschaftlichen Kinogänger:innen werden ließ. Bald setzte sich die Idee des ortsfesten Kinos durch: Der Weg von den Jahrmärkten über die Hinterzimmer von Wirtshäusern und Cafés zum eigens erbauten Lichtspieltheater ging einher mit der wachsenden Akzeptanz bürgerlichkonservativer Schichten, die das neue Medium für sich und ihre Bedürfnisse und Ansprüche entdeckten – mit der Konsequenz, dass sich auch die filmischen Angebote veränderten und entwickelten: Waren die anfangs mit den jeweils technisch gegebenen Mitteln hergestellten Szenen eher noch Demonstrationen äußerer Bewegungen, entwickelten sich die Filme stetig zu innerlich bewegenden Geschichten. Die Alltagsszenen der ersten Stunde verloren ihren Reiz, die Einfahrt eines Zuges in einen Bahnhof hatte nichts Sensationelles mehr, und flanierende Menschen in Bewegung, etwa jene Arbeiterinnen, die das Lumière-Gelände in Lyon verlassen, wurden kaum noch als spektakulär und erst recht nicht als hinreichend dramatisch empfunden. So erfand sich der Film als kommerzielle Unterhaltungsindustrie, die ständig neue Formen des Erzählens von komisch bis spannend, von anrührend kitschig bis (melo-)dramatisch ersann, Genres von der Slapstick-Posse über den Western bis zur theatralisch-pompösen Tragödie kreierte, um ein möglichst großes Publikum mit dem zu bedienen, wonach es fragte, Humoreskes, mal auch Erotisch-Frivoles. Die Brüder Lumière sollen entsetzt gewesen sein: »Das Kino hat keine Zukunft!«,3 verkündete August Lumière klagend angesichts der neuen Attraktionen. Und inmitten der öffentlichen Debatte über das neue Massenphänomen mutmaßte der Autor Louis Haugmard in einem Aufsatz 1913: »Durch das Kino werden die bezauberten Massen lernen, nicht mehr zu denken, jeden Impuls zum Argumentieren und Konstruieren zu unterdrücken [...] Wird Cinematographie vielleicht eine elegante Antwort auf das soziale Problem finden, wenn man den modernen Slogan wie folgt formuliert: ›Brot und Kinos‹? [...] Und wir kommen dem Tag immer näher, an dem Illusion und Maskerade regieren werden.«4 Doch das Kino als Ort »industrialisierter« Unterhaltung kümmerte sich nicht sonderlich um skeptische Vorbehalte. Es schuf sich seine eigenen Paläste, die besonders in den Großstädten als Tempel des Vergnügens erstrahlten. Nach dem Vorbild der Theaterbauten entwickelte sich die Ära der prächtigen Kinoarchitektur. Filmplakat zu Engelein, 1914 von Ludwig Kainer

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