Leseprobe

32 Mit der Industrialisierung des Films änderte sich auch das Produktions- und Vertriebssystem. Nicht länger erwarben die Jahrmarktunternehmen Filmkopien, vielmehr bestimmten finanzstarke Filmverleihe wie die französische Firma Pathé Frères ab 1907, was hergestellt, vertrieben und gezeigt wurde. Mittlerweile konnte ein Film zeitgleich in Hunderten von Kinos aufgeführt werden, zahllose Menschen konnten weltweit über dieselben Geschichten staunen – und sich für dieselben Schauspieler:innen begeistern. Fasziniert verfolgten sie deren komische oder tragische Geschichten und bildeten ihre eigenen Vorlieben für die eine Schauspielerin oder den anderen Schauspieler heraus. Nicht länger musste man aufwendig reisen, um einen Theaterstar wie Sarah Bernhardt (1844–1923) auf einer Bühne in Paris oder London oder während einer Tournee durch die Vereinigten Staaten zu erleben. Vielmehr kamen die bewunderten Idole zu einem ins nahe gelegene Kino – als Filmstars! Bald sicherten vor allem sie den geschäftlichen Erfolg eines Films. Zum frühesten internationalen Leinwandliebling avancierte der französische Schauspieler Max Linder (1883–1925), dessen Karriere 1905 begann und dessen Name fortan prominent auf zahlreichen Kinoplakaten prangte. Als eleganter Dandy namens »Max« zog er das Publikum in seinen Bann und DIE ERSTEN STARS Szenenfoto mit Asta Nielsen aus Wenn die Maske fällt, 1912, Urban Gad behielt selbst in den haarsträubendsten Situationen seine stilvolle, perfekt gekleidete Haltung. Und schon bald bewunderte das Kinopublikum auch seinen ersten weiblichen Filmstar: die dänische Aktrice Asta Nielsen (1881–1972). Auch im Deutschen Reich konzentrierte sich die Filmindustrie ab 1909/10 zunehmend auf die Herstellung von Filmen mit Spielhandlung. Entsprechend wurden auch hier gute Darsteller:innen gesucht. Einige von ihnen wurden schnell populär, beispielsweise Henny Porten (1890–1960), die ab 1910 in Filmen der Gesellschaft Messter’s Projection zu sehen war – und dafür ins kalte Wasser gestoßen wurde. Das Filmunternehmen war auf der Suche nach einer wandlungsfähigen Debütantin, die in der Lage war, über ihre körperliche Schönheit hinauszuwachsen, um somit ihre Befähigung zur »Künstlerin« zu offenbaren. Henny Porten musste sich förmlich aus einem bislang eher allgemein gehaltenen Unterhaltungsfilmprogramm herausspielen, um zuallererst die Kinobesitzer von sich als aufsteigender Star zu überzeugen. In einer zeitgenössischen Anzeige warb Messters Produktionsfirma eher unspezifisch. In gleich großen Kästen stellte man seine Januar-Neuheiten vor, darunter: »Ein mutiger Alter. Sehr spannend!«, »Das holde Vis-à-vis. Sehr komisch« und »Ich heirate meine Köchin. Humoristisch«. Hinzu kam: »Das Liebesglück der Blinden. Ergreifendes Drama«, und obwohl ihr Name noch nicht genannt wurde, war dieser Film der erste Achtungserfolg für Henny Porten, die auch ohne Schauspielausbildung ihre Starqualität bewies. »Ich habe meine Arbeit für den Film von Anfang an sehr ernst genommen«, schrieb sie 1932 rückblickend. »Ich habe an ihn und seine künstlerischen Möglichkeiten geglaubt, als ihn noch niemand ernst nahm und als es auch tatsächlich nicht leicht war, ihn ernst zu nehmen.«5 Nebenbei sei bemerkt: Auch Kinderrollen konnten zu Ruhm führen. So war Curt Bois (1901–1991) der erste Kinderstar des deutschen Films – und einer der ersten Kinderstars der Filmgeschichte überhaupt. Schon mit sieben Jahren spielte er seine erste Bühnenrolle, als Heinerle wurde er in Filmen berühmt, gefeiert als »talentvollster Kinderschauspieler Berlins«.6 Später feierte er auch als prägnanter Revuesänger Erfolge, bevor er 1933 vor den Nationalsozialisten floh, in Hollywood eine moderat erfolgreiche zweite Karriere – u.a. in Casablanca (1942, Michael Curtiz) – startete und 1950 nach Deutschland zurückkehrte, um erneut als Kabarettist und Schauspieler zu reüssieren. Mit In weiter Ferne, so nah! (1993) von Wim Wenders endete Curt Bois’ lange, eng mit den gesellschaftlichen und politischen Umbrüchen, Irrungen und Wirrungen verzahnte Karriere als anrührend grandiose Hommage.

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