Leseprobe

33 Der Frühe Film 1895–1918 ASTA NIELSEN Gegen Ende des Jahres 1910, als die Unterschriften unter den Verträgen zu Das Liebesglück der Blinden (1911, Curt A. Stark/Heinrich Bolten-Baeckers) mit Henny Porten gerade erst getrocknet waren, erlebte das Publikum im Palast-Theater in Düsseldorf eine andere Filmsensation: Hier fand am 18. November 1910 die Premiere des zweiaktigen Dramas Abgründe (Originaltitel Afgrunden) statt. Regie führte der Däne Urban Gad (1879–1947), und zum ersten Mal füllte ein einziger Film mit der damals epischen Länge von knapp 40 Minuten eine Kinovorführung. Vor allem war es die Hauptdarstellerin, die ein mittleres Erdbeben auslöste – die dänische Theaterschauspielerin Asta Nielsen avancierte zum ersten weiblichen Filmstar Europas. Als man ihr 1909 erstmals eine Filmrolle angeboten hatte, reagierte sie ablehnend: »Ich fiel aus allen Wolken bei diesem Gedanken ... die neue ›Kunst‹ bestand doch hauptsächlich aus Cowboyszenen im Wilden Westen oder komischen Situationen, wo Bäckerjungen mit Schornsteinfegern aneinandergerieten oder feingekleidete Herren und Damen sich damit vergnügten, sich gegenseitig Schlagsahne ins Gesicht zu werfen.«7 Etwa zu jener Zeit begegnete sie Urban Gad am Neuen Theater in Kopenhagen. Als er ihr das Manuskript zu Abgründe offerierte, änderte sich ihre Einstellung: »Endlich die begehrte große dramatische Rolle!«8 So begann die Zusammenarbeit der beiden, aus der eine lange Erfolgsserie von allesamt im Deutschen Reich hergestellten Filmen erwuchs. Etliche von ihnen sind verschollen oder liegen nur als Fragmente vor. Auch die heute existierende Version von Abgründe weist deutliche Anzeichen von chemischem Verfall auf, doch ausgerechnet die spektakulärste Szene blieb in guter Qualität erhalten: Der knapp vierminütige »Goucho-Tanz« war in Schweden zum »Schutz« des Publikums entfernt worden, und so verblieb die inkriminierte Tanzszene nahezu unbeschadet in den Archiven der schwedischen Zensur. Beim »GouchoTanz« fesselt Asta Nielsen nicht nur ihren Tanzpartner, auch das damalige Kinopublikum war elektrisiert. In jeder Hinsicht ist die körperlich große Schauspielerin ihrem Tanz- und Spielpartner gewachsen, ohne dass es dazu einer Großaufnahme bedurfte. Die statische Kamera filmte in einer langen, nahezu ungeschnittenen Einstellung eine Theaterbühne, am rechten Bildrand sieht man einen Posaunisten im Orchestergraben, im Hintergrund zwischen den Kulissen stehen zwei Bühnenarbeiter und ein (sitten-)strenger Polizist, der sich kaum bewegt und stoisch zuschaut, wie Asta Nielsen ihren »störrischen« Partner mit einem Lasso einfängt, ihn mehrmals umkreist und sich so elegant wie selbstbewusst, so ekstatisch wie sinnlich an ihn schmiegt. Eine ebenso hinreißende wie spektakuläre Szene, die heute noch wirkt: »Wenn Asta Nielsen heute leben würde, dann wäre sie eine Ikone für junge Frauen, ein Symbol der Emanzipation – eine Frau, die sich alle Rechte herausnimmt.«9 Die Schauspielerin lockte zunehmend auch ein anspruchsvolleres (Theater-)Publikum in die Kinos und veränderte dessen Sehgewohnheiten. Dass sie mit ihren ausgefallenen, sehr unterschiedlichen Rollen in etwa 70 Filmen nicht immer den realen gesellschaftlichen Konventionen entsprach, dürfte ihren Starkult nur noch gesteigert haben. Vor allem verkörperte sie das (Wunsch-)Bild einer modernen, »neuen« Frau und repräsentierte aktuelle Träume und Visionen einer angesagten weiblichen Unabhängigkeit. Ein prägnantes Beispiel für die ganze Bandbreite dieses gesellschaftlich virulenten Themas ist der Stummfilm Die Suffragette (Urban Gad), der am 12. September 1913 uraufgeführt und im Untertitel als »Mimisches Schauspiel« charakterisiert wurde. Tatsächlich fasziniert an dem Film vor allem Asta Nielsens Mienenspiel, das in einigen prominent platzierten Momenten die Handlung unterbricht und sie vielsagend kommentiert. Und obwohl ihr gegen Ende hin immer deutlicher die Zügel angelegt werden: Asta Nielsens markantes Gesicht in den hinreißenden Nahaufnahmen, ihr variantenreiches Lächeln zwischen herablassend und liebevoll, das Spiel ihrer Augen, funkelnd zwischen Stolz, ironischer Überlegenheit und heiterer Abenteuerlust, bleiben nachwirkend in Erinnerung. Auch Die Suffragette, gedreht im Union-Film Atelier in Berlin-Tempelhof, ist nur fragmentarisch erhalten. In der restaurierten Fassung wurden fehlende Szenen jedoch durch Standfotografien und Szenenbeschreibungen ersetzt, sodass sich die Handlung um die von Nielsen verkörperte Nelly Panburne, die sich zunächst zu einer Gallionsfigur diverser Suffragettenkampagnen radikalisiert, um sich letztlich – von der Liebe gemäßigt – im familiären Idyll einzurichten, gut vermittelt. Asta Nielsen strahlt dabei als »Filmprimadonna«, als die sie sich im Übrigen in einem weiteren Erfolgsfilm, ebenfalls aus dem Jahr 1913, quasi dokumentarisch selbst positionierte. Von Die Filmprimadonna (Urban Gad) liegen nur noch wenige Meter Filmmaterial vor, sodass sich die Tragödie eines Filmstars, der gleich in doppeltem Sinne an gebrochenem Herzen stirbt, eher über die Inhaltsangabe als über den Film selbst vermittelt. Jedoch bleibt nach wie vor eindrucksvoll zu erkennen: Hier agiert eine unabhängige, erfolgreiche Frau als gefeierte Filmschauspielerin, die alle Fäden in der Hand hält, Filmmanuskripte selbstbewusst ablehnt oder zusagt, entscheidend in den filmischen Herstellungsprozess eingreift, etwa indem sie einen männlichen Filmpartner empfiehlt, sogar eigenhändig das belichtete Filmmaterial kontrolliert und deutlich Kritik übt, wenn sie sich nicht angemessen abgebildet sieht. Aus heutiger Sicht faszinieren die erkenntnisreichen Einblicke in die damalige Filmherstellung, ebenso aber staunt man über die Position von Asta Nielsen, zeigt Die Filmprimadonna doch laut der Filmwissenschaftlerin Heide Schlüpmann »die Freiheit und den Einfluss, die unbeschränkten Möglichkeiten, die der Schauspielerin innerhalb der Filmproduktion zukamen«.10

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