99 Das Kino der Weimarer Republik 1919–1932 BERLIN. DIE SINFONIE DER GROSSSTADT 1927 | Regie: Walther Ruttmann Ein experimenteller Dokumentarfilm, der entlang der eigens für das Werk komponierten Musik von Edmund Meisel mit ambitionierter Schnitttechnik einen Tag in der Metropole Berlin des Jahres 1927 zeigt. Der Film beginnt früh morgens mit der Einfahrt eines Zuges, präsentiert Facetten des Alltagslebens und der sozialen Gegensätze und endet mit Szenen aus dem Nachtleben. Walther Ruttmanns Sinfonie gilt heute als einer der bedeutendsten Filme der Weimarer Republik. | PM [...] Ruttmanns Film ist keine Sammlung photographischer Aufnahmen Berlins. Diese große Stadt ist als Schauplatz eines unendlich, differenzierten Lebens erfühlt, eines Daseins, das sich in den tausend und aber tausend Episoden des täglichen Lebens verwirklicht und das in seiner Gesamtheit dieses berauschende, überwältigende Gefühl »Weltstadt« ergibt. Von diesem Erlebnis ist Ruttmann getragen, und dieses Gefühl zu einem mächtigen Akkord anschwellen zu lassen, ist die ästhetische Aufgabe dieses Films, der sich nicht mit Unrecht als »Symphonie« bezeichnet. Denn sein Aufbau ist durchaus kompositorisch gedacht, die Linienführung verrät die Hand des komponierenden Gestalters – Akkorde, Dämpfungen, Prestissimos, Adagios wie in der Musik. Das ist die Großstadt, wie sie ein Künstler erfühlt, eine Gestaltung aus Eisen, Blut und Licht – erfüllt von dem mächtigen Brausen des Lebens, das von diesem Film in das Parkett überspringt und es überwältigt. [...] Ruttmann konnte diese Wirkung nur erzielen, weil ein Kameramann von dem künstlerischen Range Karl Freunds Hand in Hand mit ihm arbeitete. Die Leistung Freunds steht beispiellos in der bisherigen Geschichte der Kinematographie da. Dieser Film verzichtet auf die Hilfsmittel, die im Atelier zur Verfügung stehen. Kaum, daß ein Schauspieler das Leben auf der Straße, in der Kaschemme ein bißchen in Gang bringt. Freund hat Einstellungen gefunden, die alltägliche Gebäude und Straßenfronten, alltägliche Begegnungen und Zusammenstöße in Bilder von wahrhaft überraschender künstlerischer Kraft verwandeln. Die gebundene Kraft, die in einer Hausfront liegt, im steilen Ansteigen eines Turms, ist durch Stellungnahme von unten, von oben, durch seitliche Verschiebungen mit einem künstlerischen Auge erfühlt, wie es kaum die freie Phantasie des Malers zum Ausdruck zu bringen vermag. Die Menschen sind in einer Nähe belauscht, wie es noch kein Film vermocht hat. Erschreckt, amüsiert, verdutzt betrachtet man den Vorgang, wie sich ein Mann eine Zigarre anzündet. Er hat von seiner Aufnahme mit dem kleinen, kaum sichtbaren Pathé-Apparat nichts gewußt und läßt sich gehen. Vor diesem Film hat kein Mensch gewußt, kein Mensch darauf geachtet, welch ein groteskes, wandlungsreiches Schauspiel dieser Vorgang ist. Und dann ist Freund der klassische Meister im Erschauen einer Lichtwirkung, die Morgendämmerung der Stadt ist mit beispielloser Kunst photographisch getroffen, unerhört ist das Licht in seiner betonenden, formschaffenden unterstreichenden und mildernden Funktion eingefangen. Die photographische Leistung dieses Films wird den Ruhm deutscher Kamerakunst durch die Welt tragen. [...] Rudolf Kurtz Lichtbild-Bühne, Nr. 229 24. September 1927
RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1