Nachkriegskino 1946–1961 206 DIE MÖRDER SIND UNTER UNS 1946 | Regie: Wolfgang Staudte Die Dreharbeiten des in der sowjetischen Besatzungszone produzierten ersten deutschen Nachkriegsfilms starteten noch vor Gründung der DEFA. Erzählt wird die Geschichte einer aus einem Konzentrationslager in das zerstörte Berlin zurückgekehrten jungen Frau, gespielt von Hildegard Knef, die sich in einen durch die Fronterlebnisse traumatisierten Chirurgen, dargestellt von Ernst Wilhelm Borchert, verliebt. Eine Wiederbegegnung des Chirurgen mit seinem ehemaligen, von Arno Paulsen verkörperten Kommandanten, einem Kriegsverbrecher, motiviert ihn zur Selbstjustiz. Die Mörder sind unter uns begründete das Genre des Trümmerfilms. | PM [...] Die Bilder erschüttern noch heute, fast 70 Jahre danach. Eine Stadt, die keine mehr ist. [...] Der Blick ist niedergeschlagen. Auch der der Kamera. Immer wieder schaut sie erst zu Boden, auf Pfützen, Schutt, Ratten oder, im allerersten Bild, ein Grab mitten an der Straße, um dann den Blick zu heben, auf einsame, dunkle Mauerreste, die in den Himmel ragen. Gekippte Aufnahmen, schräge Perspektiven. [...] »Die Mörder sind unter uns« war 1946 der erste deutsche Nachkriegsfilm. Und erschütterte die Nation: weil hier der Rest des Landes erstmals das ganze Ausmaß der Zerstörung der einst stolzen Stadt sehen konnte. Der Film reflektiert ein äußeres Bild und zugleich eine innere Verfassung. [...] Regisseur Wolfgang Staudte hatte da eine Not zur Tugend gemacht. Denn die Filmindustrie war ja zerstört. Es gab keine Studios mehr, wo man hätte drehen können. Also ging er auf die Straße. So wurde ein neues Genre geboren: der Trümmerfilm. Und der Film schrieb Geschichte. [...] Kurz nach Kriegsende wagte es ein deutscher Regisseur, gegen viel Widerstand, die Traumata der Deutschen zu thematisieren. Begangene NS-Verbrechen anzuklagen. Aber auch das Leben und Überleben in den Trümmern zu zeigen. [...] Auch Staudte plagte eine Schuld. Bevor er 1943 [...] erstmals Regie führen durfte, hatte er sich als Schauspieler in rund 100 Filmen verdingt, auch in Propaganda- und Hetzfilmen wie »Ohm Krüger« und »Jud Süß«. Die Ablehnung einer Rolle hätte die Einberufung zum Militär bedeutet. Noch in den letzten Kriegstagen aber hätte ihn ein betrunkener SS-Obersturmbannführer beinahe erschossen. [...] Unter diesem Eindruck schrieb er das Drehbuch, noch mit dem Arbeitstitel »Der Mann, den ich töten werde«. Und er wollte den Film machen, egal mit wem, egal wo in der geteilten Stadt. [...] Im russischen Sektor wurden Staudte die Türen geöffnet. Der dortige Kulturoffizier [...] hatte nur einen Einwand: dass es am Ende keine Selbstjustiz geben dürfe. Staudte gab ihm Recht und schrieb einen viel nachdrücklicheren Schluss. [. . .] Staudte drehte auf der Straße, am Stettiner Bahnhof [...] und in der Kleinen Andreasstraße. Auch die Reichstagsruine ist kurz im Bild. Und sein versehrter Kameramann Friedl Behn-Grund fing das in düstere Bilder ein, mit harten Helldunkelkontrasten und gekippten Perspektiven, ganz in der Tradition des expressionistischen Stummfilms. [...] »Die Mörder sind unter uns« machte die damals [20-jährige Hildegard Knef] zum ersten deutschen Nachkriegsstar. [. . .] Bis 1951 sahen [den Film] fünf Millionen Zuschauer. Das hatte einen schlichten Grund. Die Eintrittspreise waren niedrig. [...] Es hatte aber auch einen moralischen: Nur einen Tag nach der Premiere wurde das Todesurteil der Nürnberger Prozesse vollstreckt. Auch wenn die vielen kleinen Täter später doch ungeschoren davon kamen: Der Appell, die Botschaft am Ende war deutlich. Der Film ist deshalb ein einzigartiges Dokument und Zeit-Bild. Trotz der aus heutiger Sicht seltsamen Konstellation, dass das KZSchicksal der Frau ausgeblendet wird und ausgerechnet sie den am Krieg zerbrochenen Mann zurück ins Leben holen muss. Aber auch das steht für jene, Zeit, in der die Frauen die Ärmel hochkrempelten und die Arbeit erledigten, während die Männer in Resignation und Passivität erstarrten. [...] Peter Zander Berliner Morgenpost 21. Juli 2023
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