Leseprobe

Deutscher Film in Ost und West 1962–1989 290 NICHT DER HOMOSEXUELLE IST PERVERS, SONDERN DIE SITUATION, IN DER ER LEBT 1971 | Regie: Rosa von Praunheim Der Paragraf 175, der Sex zwischen Männern verbot, war 1969 reformiert worden. Die Entschärfung hatte Bewegung in den öffentlichen Diskurs gebracht, weshalb der Westdeutsche Rundfunk den jungen schwulen Regisseur Rosa von Praunheim beauftragte, einen Film zu dem Thema zu drehen. Die Geschichte um einen von Bernd Feuerhelm gespielten jungen Mann Anfang 20, der aus der Provinz nach Berlin geht, bekam durch den kritischen, hochpolitisierten Offkommentar seine provokative Schärfe. Zuerst auf der Berlinale gezeigt und dann im Deutschen Fernsehen 1973 ausgestrahlt, löste der »Schwulenschocker« einen gesellschaftlichen Skandal, aber auch den Beginn der schwulen Befreiungsbewegung aus und gilt bis heute als Klassiker des queeren Films. | NW ... DER WERFE ENDLICH DEN LETZTEN STEIN Der Vorname ist schon Bekenntnis, Programm: Der Regisseur Rosa von Praunheim ist ein Mann, der, ebenso wie sein wissenschaftlicher Mitarbeiter Martin Dannecker, die eigene Homosexualität nicht vertuscht, sie vielmehr bewußt annimmt. Er hat also seinen Film – anders als solche Untersuchungen sonst meist geschehen – von innen nach außen gedreht, nicht als mitfühlender, mitdenkender Liberaler, sondern als Betroffener. Gleichwohl und obschon das ein Auftragsfilm des Fernsehens (WDR) und demnach also einem vorwiegend nicht gleichgearteten Massenpublikum zugedacht ist, bemüht er sich um dieses, um das Verständnis der immer noch weitgehend Unverständigen sehr viel weniger als daß er sein eigenes, das dritte Geschlecht unnachsichtig in die Zange der Kritik nimmt (und damit, wie sich in nachfolgenden überaus hitzigen Diskussionen zeigte, nicht nur seine eigenen Freunde, sondern eben auch jene wohlwollenden Liberalen gegen sich aufbrachte). [...] Was schlägt Praunheim vor? Diese Menschen sollen endlich »von den Toiletten weg auf die Straßen«, Straße nicht als trister Kontaktplatz, als Kampfplatz vielmehr gemeint, sollten sich endlich emanzipieren, doch um Gottes willen nicht integrieren, doch integrieren. Will heißen: Sie sollen sich ihrer Veranlagung nicht mehr schämen, das alte Schuldtrauma wegwerfen, sich sozusagen gewerkschaftlich organisieren, die Konfrontation mit den »Normalen« suchen, selbstbewußt die Anerkennung als gleichberechtigte Minderheit erzwingen, sich aber auch nicht von dem sogenannten pädagogischen Eros der Kultivierten einfangen lassen: Das haben nur die Alten und Reichen erfunden, sich Knaben gefügig zu machen. Homosexuelle sind auch nicht – Praunheim läßt rücksichtslos nicht einmal die zartesten Legenden gelten – grundsätzlich klüger, begabter, künstlerischer oder sensibler als andere Menschen. Sie tun nur so, sich Ausgleich für ihre Feigheit, ihre menschliche Unbrauchbarkeit zu schaffen. [...] Praunheim, der übrigens die sexuelle Rollenverteilung der Homoeroten, die Frage: biologische oder erzieherische Ursachen für die Homosexualität, total ausklammert, meint es »gewaltig« und »irrsinnig« – zwei bezeichnende Lieblingswörter von ihm – ehrlich mit den Leviten, die er seinen eigenen Leuten liest. Aber ohne es zu merken, treibt er die Homosexuellen in die den Juden von den falschen Philosemiten aufgezwungene Rolle: Sie sollen, so eifert er, bessere, tüchtigere, »wesentlichere«, aufrichtigere, moralischere, humanere Menschen sein als die anderen. Warum eigentlich? Warum dürfen sie ihr Glück nicht zum Beispiel in der Promiskuität suchen, warum dürfen sie nicht verzweifelt sein oder genauso mittelmäßig, genauso spießig sein wie andere? Warum setzt Praunheim den eben aufgehobenen Paragraphen 175 wieder neu in Kraft: Nunmehr als ein moralisches Gesetz im Homosexuellen selbst – und haben doch den gleichen bestirnten Himmel über sich wie alle? Karena Niehoff Süddeutsche Zeitung 31. Juli 1971

RkJQdWJsaXNoZXIy MTMyNjA1